Berlin. Die Corona-Krise kann für die künftige Regierung sowohl eine Chance als auch Gefahr bedeuten, meint unsere Autorin Miriam Hollstein.

„Zwischen den Jahren“ heißt die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester. Das alte Jahr ist fast vorbei, das neue noch nicht angebrochen. Politisch gesehen befindet sich Deutschland schon jetzt zwischen den Jahren. Die bisherige Bundesregierung ist noch im Amt, aber nur noch geschäftsführend, die neue noch nicht gewählt. Doch anders als bei einem normalen Jahresausklang können wir uns eine sanfte Rück- und vorsichtige Vorschau nicht leisten.

Daran ist Delta schuld. Die Corona-Virusvariante, die sich aggressiver als ihre Vorgängerinnen verbreitet, dominiert in Deutschland die Infektionslage. Die Zahl der Neuansteckungen explodiert, auf vielen Intensivstationen werden die Betten knapp – das Personal ist es schon länger. Experten warnen, dass die vierte Welle schlimmer werden könnte als alles, was wir zuvor erlebt haben. Bei vielen Menschen machen sich Angst und Verunsicherung breit.

Miriam Hollstein
Miriam Hollstein © David Hollstein | David Hollstein

In einer solchen Situation ist ein Machtvakuum besonders gefährlich. Sowohl ganz praktisch als auch politisch. Praktisch, weil ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems und damit viele weitere Tote drohen. Politisch, weil es Kräfte in Deutschland gibt, die eine instabile Lage nutzen, um die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben.

Für Olaf Scholz ist die Lage schwierig. Noch ist er Kanzler „in Lauerstellung“, seine künftige Regierung mitten im Findungsprozess. Trotzdem muss er jetzt schon Führungsverantwortung übernehmen. Das ist ihm bislang nicht gelungen. „Wo steckt Scholz?“, ätzte nicht nur die Opposition. Der künftige Regierungschef schien abgetaucht.

Für schöne Worte bleibt keine Zeit mehr, Maßnahmen müssen her

Scholz’ Rede am Donnerstag im Bundestag war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Dort kündigte der mutmaßlich zukünftige Regierungschef eine Bund-Länder-Konferenz für die nächste Woche an. So anstrengend und teilweise absurd diese Runden zuletzt geworden waren, so nötig sind sie angesichts der dramatischen Lage, in der wir uns befinden.

Zumal die überall deutlich ansteigenden Inzidenzen das Argument, man müsse die Situation regional unterschiedlich bewerten, hinfällig macht. Auch der Aufruf zur Booster-Impfung und zu einer großen, gemeinsamen Impfkampagne sind richtige Signale – mehr aber auch nicht.

Für schöne Worte bleibt keine Zeit mehr, jetzt müssen schnell Maßnahmen kommen, die zu einer Reduzierung der Infektionszahlen führen. Das Paket, das die Ampel-Parteien vorgelegt haben, ist bislang aber alles andere als überzeugend. Ein bisschen Abstand- und Hygieneregeln, Maskenpflicht, die Wiedereinführung kostenloser Tests – all das wird nicht ausreichen.

Gleich zwei Krisen für die künftige Regierung

Zu härteren Regeln wie der Verpflichtung zu täglichen Tests für Besucher und Mitarbeiter von Pflegeheimen konnten sich die Koalitionäre nicht durchringen. Besonders fragwürdig ist der Plan, die Feststellung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, die die Rechtsgrundlage für weitgehende Corona-Eingriffe schafft, zum Monatsende auslaufen zu lassen. Zur Annahme, man hätte die Situation auch ohne diese im Griff, gibt es derzeit keinen Grund.

Für die neue Regierung wird Corona zum Kaltstart. Ihr werden keine 100 Tage Zeit bleiben, um sich an die neue Rolle zu gewöhnen und erste eigene Akzente zu setzen. Ihre Agenda wird von gleich zwei Krisen – neben der Pandemie auch die Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze – diktiert. Das ist eine große Last, aber auch eine Chance.

Wenn Olaf Scholz jetzt beweisen kann, dass er der Verantwortung gewachsen ist, wird dieser Eindruck seine Kanzlerschaft prägen. Für den Fall, dass seine Regierungszeit mit einem Kon­trollverlust beginnt, gilt dies allerdings auch.