Berlin. Die Rufe nach schärferen Corona-Regeln werden lauter. Am Verfassungsgericht wird es nicht scheitern. Das zeigt das jüngste Urteil.

„In der äußersten Gefahrenlage der Pandemie“ sind harte Corona-Auflagen – Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen – mit dem Grundgesetz vereinbar. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden.

Trotz der schweren Eingriffe in die Freiheitsrechte seien solche Maßnahmen verhältnismäßig gewesen, heißt es in der Entscheidung, die am Dienstagmorgen veröffentlicht wurde.

Formal haben die acht Richter - vier Frauen, vier Männer - im Ersten Senat Recht gesprochen zur so genannten „Notbremse“, die am 30. Juni ausgelaufen war. Und doch hat der Spruch keineswegs an politischer Relevanz verloren.

Bundesverfassungsgericht: Leitspruch zugunsten der Regierung

Denn: Angesichts steigender Inzidenzen wird in Berlin über schärfere Maßnahmen diskutiert. Bald-Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zwar stets beteuert, man werde alles tun, was nötig sei, „es gibt nichts, was nicht in Betracht gezogen werden kann.“ Aber jetzt weiß er, dass er sich rechtlich nicht aufs Glatteis bewegt.

Bisher haben die Richterinnen und Richter um Gerichtspräsident Stephan Harbarth, der selbst zum ersten Senat gehört, nahezu jede Maßnahme durchgewunken, von der sich Bund und Länder ein Ende der Pandemie versprachen.

Umfassende Ausgangsbeschränkungen kämen allerdings nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht, schränkte das Gericht ein. Mit ihnen verfolgte die Bundesregierung „Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung, insbesondere Leben und Gesundheit zu schützen“, befanden die Richterinnen und Richter.

Bundesverfassungsgericht: RKI-Expertise war entscheidend

Bei der Beurteilung stützte sich das Gremium vor allem auf die Expertise des Robert Koch-Instituts (RKI). Das hatte die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung aufgrund der anhaltend hohen Fallzahlen insgesamt als sehr hoch eingeschätzt. Viele Sachverständige sahen das ähnlich.

Insgesamt 450 Bürger hatten gegen die „Corona-Notbremse“ Verfassungsbeschwerden eingelegt, nachdem das Gesetz Ende April in Kraft getreten war.

Die Richter im Ersten Senat ließen sich Zeit. Sie hatten einen Entscheidung für Oktober/November angekündigt - und reizten die Zeitspanne bis zum letzten Tag aus, bis zum 30. November.

Pikant: Die baldige Kanzlerpartei SPD hat die Maßnahmen mitbeschlossen, ihr heutiger Koalitionspartner FDP war vehement dagegen.

Corona: Mutter hatte gegen Schulschließungen geklagt

Die Contra-Argumente von damals lassen sich auch heute anführen, sollten Bund und Länder wieder einen Lockdown angehen: mithin erhebliche Eingriffe in die Grundrechte.

Anhand von insgesamt neun Klagen hatten die Richter eine Entscheidung getroffen. Sieben Beschwerden richteten sich gegen die Kontaktauflagen, zwei gegen Schulschließungen, unter anderem zog die Mutter eines Grundschulkindes im baden-württembergischen Kreßberg nach Karlsruhe.

Zwischen den damals beschlossenen und den heute diskutierten Auflagen gibt es allerdings zwei Unterschiede: Das Hauptkriterium waren damals die Inzidenzen, also die Zahl der positiven Corona-Tests in sieben Tagen auf 100.000 Einwohner. Das hielten viele für ein zu grobes Kriterium.

Schärfere Corona-Regeln kommen wieder in Betracht

Inzwischen zielen die Krisenmanager mehr auf die Hospitalisierungen ab, auf die Zahl der tatsächlich am Virus erkrankten Menschen und auf die Auslastung der Krankenhäuser, zumal der Intensivstationen.

Den Klägern gingt es nach eigenen Worten um eine Grundsatzentscheidung, „damit künftig die Rechte der Schulen in ähnlichen Situationen gestärkt werden“. Das Grundrecht auf Bildung soll gewahrt werden, damit die Schule ihrem Bildungsauftrag im Präsenzunterricht angemessen nachkommen könne.

Damals hatte die Bundesregierung verlauten lassen, sollte sich durch Mutationen die Pandemie weiterentwickeln, könne sie die Notbremse jederzeit reaktivieren. Das ist exakt die Situation, die mit der neuen Corona-Variante Omikron eintreten könnte.

Landkreise irritiert über Verfassungsgerichtsentscheidung zur Bundesnotbremse

Die deutschen Landkreise haben sich verwundert über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse geäußert. „Wir sind von den heutigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts inhaltlich durchaus überrascht worden“, sagte Landkreistagspräsident Reinhard Sager unserer Redaktion. Mit der Bundesnotbremse sei „in die Kompetenzen der Länder massiv eingegriffen worden, bis hin zur verbindlichen Vorgabe von Schulschließungen“. Dabei habe das Gericht die sozialen und psychischen Folgen des fehlenden Präsenzunterrichts auf die Kinder nicht ausreichend berücksichtigt, kritisierte der Landrat des Landkreises Ostholstein.

Die Politik müsse „alles daran setzen, dass Schulen wenn irgend möglich nicht geschlossen werden müssen“, forderte Sager. „Daran sollten Länder und Bund bei ihrer heutigen Zusammenkunft keinen Zweifel aufkommen lassen.“

Zugleich sprach sich der Präsident des Landkreistages für eine allgemeine Impfpflicht aus. „Das wird nicht zu verhindern sein, um eine sonst wahrscheinliche fünfte Welle zu verhindern. Diese Entscheidung sollte rasch und konsequent getroffen werden“, verlangte der CDU-Politiker. Um mehr Tempo bei den Booster-Impfungen zu erreichen, müsse zusätzlich in Apotheken und Zahnarztpraxen geimpft werden.

Sager rief den Bund dazu auf, das Infektionsschutzgesetz wieder zu verschärfen. Die Länder müssten in die Lage versetzt werden, Veranstaltungen zu untersagen oder das Schließen bestimmter Einrichtungen und Betriebe nicht nur im Einzelfall anzuordnen.