Berlin. DGB-Chef Reiner Hoffmann über den Wegfall der meisten Corona-Maßnahmen - und was die Politik gegen die hohen Energiepreise tun soll.

Reiner Hoffmann schaltet sich per Video zu – er ist an diesem Tag im Homeoffice. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes warnt im Interview davor, dass die Betriebe zu einem Pandemie-Treiber werden.

Herr Hoffmann, die meisten Corona-Schutzmaßnahmen fallen. Fühlen Sie sich damit wohl?

Reiner Hoffmann: Die weitreichenden Lockerungen sind keine gute Entscheidung, ich fühle mich damit überhaupt nicht wohl. Wir haben Rekord-Inzidenzen, und im Herbst kann sich die Lage noch einmal verschlechtern. Ich plädiere dafür, das Infektionsschutzgesetz und auch die Covid-Arbeitsschutzverordnung rasch nachzuschärfen. Wir dürfen nicht riskieren, dass der Arbeitsplatz wieder zu einem Infektionsherd wird.

Also weiter Homeoffice?

Hoffmann: Unter den Bedingungen der Pandemie sollte die Homeoffice-Pflicht beibehalten werden. Glücklicherweise halten viele Unternehmen über den 20. März hinaus am Homeoffice fest – auf der Basis von Betriebsvereinbarungen.

Die Unternehmen können kein Interesse daran haben, dass sich Beschäftigte infizieren und zehn Tage auskurieren müssen. Leider gibt es auch Unternehmen, die Homeoffice partout nicht wollen. Deshalb brauchen wir die Verpflichtung.

Auf Corona-Tests am Arbeitsplatz wollen Sie sich nicht verlassen?

Hoffmann: Ich halte die neue Test-Regelung für abstrus: Die Arbeitnehmer sollen nur noch einen Test in der Woche kostenfrei bekommen – und auch nur dann, wenn die Infektionslage in der entsprechenden Region besonders hoch ist. Das ist Unfug!

Die Pflicht, in den Betrieben zwei Tests pro Woche anzubieten, hat sich bewährt. Das sollten wir aufrechterhalten, genauso wie die kostenlosen Bürgertests. Alles andere wird für die Unternehmen ökonomisch zu einem Harakiri. Ich kenne Arbeitgeber, die sich jeden Tag testen und das auch ihren Beschäftigten empfehlen. Das sollte Schule machen.

Wäre es Ihnen am liebsten, die Unternehmen ließen nur Geimpfte ins Büro?

Hoffmann: Nein. Wir sind für die 3G-Regelung, also geimpft, genesen oder getestet. Das hat sich eingespielt in vielen Unternehmen.

Was würde eine allgemeine Impfpflicht bringen?

Hoffmann: Persönlich bin ich für eine Impfpflicht ab 18 Jahren – unter zwei Bedingungen: Rechtssicherheit und Akzeptanz. Die Politik hat die Impfpflicht zu verantworten. Ich kann nur dazu ermuntern, eine kluge Lösung zu schaffen - und mit parteipolitischen Taktierereien aufzuhören.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Pflege-Impfpflicht, die seit der vergangenen Woche gilt?

Hoffmann: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist keine vernünftige Lösung. Das wird ganz unterschiedlich angenommen, teilweise kommt es zu Stigmatisierung. Der Personalmangel gerade in der Pflege verschärft sich weiter. Man sollte eine Impfpflicht nicht auf bestimmte Berufsgruppen oder Alterskohorten beschränken.

Was sagen Sie jenen, die den Personalmangel mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern lindern möchten?

Hoffmann: Ich halte es für zynisch, dass die geflohenen Menschen uns bei unseren Problemen helfen sollen. Den Fachkräftemangel müssen wir selbst in den Griff bekommen. Applaus für die Heldinnen und Helden der Arbeit genügt nicht. Wir müssen die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern. Dazu gehört auch die Bezahlung.

Welche Aussichten haben die Flüchtlinge, in Deutschland einen Job zu finden?

Hoffmann: Ich finde es richtig, dass die Menschen aus der Ukraine direkten Zugang zu unserem Arbeitsmarkt bekommen. Sie haben gute Chancen, entsprechend ihrer Qualifikation eine Beschäftigung zu finden – etwa im Handwerk.

Bisher kommen allerdings vorwiegend Frauen, Kinder und Ältere. Männer zwischen 18 und 60 dürfen die Ukraine nicht verlassen. Wir wissen aber auch: Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen, dass der Krieg zu Ende ist und sie wieder nach Hause können.

Was erwarten Sie von den Unternehmen?

Hoffmann: Es gibt große Anstrengungen von Unternehmen, die Menschen aus der Ukraine beschäftigen wollen. Viele schaffen bereits Sprachangebote. Auf der anderen Seite sehe ich schon die Schweinepriester, die Frauen unterhalb des Mindestlohns beschäftigen wollen. Das geht gar nicht. Die Menschen sollen hier zu ordentlichen Bedingungen arbeiten können. Das mindeste ist, dass sie den Mindestlohn bekommen.

Sollten Geflüchtete, die keinen Job finden, Grundsicherung erhalten?

Hoffmann: Das allererste Bedürfnis ist eine menschenwürdige Unterkunft, deswegen müssen die Geflüchteten auf angemessene Unterkünfte verteilt werden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist geregelt.

Heißt für Hartz IV?

Hoffmann: Nach der gesetzlichen Lage erhalten Geflüchtete Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dementsprechend werden sie von den Arbeitsagenturen beraten und gefördert. Verstetigt sich der Aufenthalt, können diejenigen, die bis dahin keine Arbeit gefunden haben, auch Grundsicherung erhalten, wofür die Jobcenter zuständig sind.

Das Ziel sollte aber sein, durch eine entsprechende Förderung, vor allem zunächst Sprachförderung, allen Menschen aus der Ukraine ohne Umwege den Zugang zu Ausbildung und Arbeit zu ermöglichen.

Der Krieg lässt in Deutschland die Preise explodieren. Welche Unterstützung brauchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich Tanken und Heizen kaum mehr leisten können?

Hoffmann: Die Entlastung sollte nicht mit der Gießkanne erfolgen. Diejenigen, die schon reichlich haben, dürfen nicht auch noch reichlich bedient werden. Ein Tankrabatt, wie ihn Finanzminister Lindner vorschlägt, ist wunderbar für die Mineralölwirtschaft und die SUV-Fahrer, die auch drei Euro für den Liter Sprit zahlen könnten. Er hilft nur nicht denen, die mit dem Pkw täglich zur Arbeit fahren müssen.

Wir fordern langfristige Konzepte, die wirklich bei den Menschen ankommen: Ein Mobilitätsgeld, das sozial ausgerichtet ist und die Pendlerpauschale ersetzt; Heizkostenzuschüsse, die weit über das verabredete hinausgehen – und eine befristete Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas und Strom.

Wie wollen Sie das finanzieren?

Hoffmann: Starke Schultern müssen gerade in dieser Situation an der Finanzierung des Gemeinwesens stärker beteiligt werden. Das ist das soziale Gebot der Stunde. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit in unserem Steuersystem – ganz gleich, ob das über die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer, die Einkommensteuer oder die Kapitalertragsteuer läuft. Diese Instrumente müssen jetzt aufgegriffen werden. Es wäre klug, wenn die Politik schnell handelt.

Was halten Sie von einem Lastenausgleich wie nach dem Zweiten Weltkrieg?

Hoffmann: 1952 wurden alle Vermögen über 5000 D-Mark mit einer Abgabe in Höhe von 50 Prozent belastet. Putins Angriffskrieg schafft eine völlig neue Situation, in der es keine Denkverbote geben darf. Daher sollte man auch über eine Vermögensabgabe wie beim Lastenausgleich nachdenken. Als weitere Sanktion gegen Russland wird ein Embargo für russisches Öl und Gas diskutiert.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Könnte sich Deutschland das leisten?

Hoffmann: Nein. Ein Importstopp für Gas aus Russland würde eher uns in die Knie zwingen als Putin. Dieser Schritt würde den Konflikt verschärfen – ohne dass wir die Möglichkeit hätten, die Rohstoffe so schnell zu ersetzen. Wir kämen in eine wirtschaftliche Situation hinein, die den Arbeitsmarkt ganz empfindlich treffen würde – mit gravierenden sozialen Folgen. Besonnenheit ist jetzt gefragt.

Wird es Zeit, den Bürgern zu sagen, dass sie sich einschränken müssen? Weniger Auto fahren, die Heizung nicht mehr so weit aufdrehen?

Hoffmann: Ganz unabhängig von diesem Krieg müssen wir unsere Energieversorgung diversifizieren und sorgsamer mit den begrenzten Ressourcen unseres Planeten umgehen. Das erfordert auch Änderungen in unserem Konsumverhalten. Aber wir lösen kein Problem, wenn wir den Leuten jetzt sagen, dass sie zwei Pullover mehr anziehen sollen.

Sind Sie eher für Tempo 100 auf Autobahnen?

Hoffmann: Wir könnten zeitlich begrenzt ein Tempolimit von 100 auf Autobahnen und von 30 in den Städten einführen, um den Energieverbrauch zu drosseln. Es ist richtig, jeden Tropfen Benzin zu sparen, den wir sparen können. Aber das ist noch keine Antwort auf unsere tiefgreifenden strukturellen Probleme. Wir müssen Energiesicherheit schaffen, und das gelingt vor allem mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien.

Wie groß ist die Gefahr, dass der Krieg zu einer Weltwirtschaftskrise und zu Massenarbeitslosigkeit führt?

Hoffmann: Je länger dieser Krieg anhält, desto größer werden die Folgen sein. Wir sollten alle Instrumente nutzen, um eine Weltwirtschaftskrise abzuwenden. In Deutschland sollte der erleichterte Zugang zum Kurzarbeitergeld kriegsbedingt über den Juni hinaus verlängert werden.

Das gleiche gilt für die Wirtschaftshilfen. Und auf der EU-Ebene sollten wir wie in der Pandemie einen neuen Wiederaufbaufonds auflegen – mit europäischen Anleihen zur Finanzierung.

Sie wollen Schulden machen ohne Ende.

Hoffmann: In welchem ökonomischen Lehrbuch steht eigentlich, dass die Schuldenquote nur 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf? Warum denn nicht 90 oder 100 Prozent?

Weil die Rückkehr zur Schuldenbremse dann am Sanktnimmerleinstag erfolgt?

Hoffmann: Die Schuldenbremse kann kein Maßstab sein in einer Situation, in der sich Pandemie und Krieg überlagern und wir zugleich die sozial-ökologische Transformation stemmen müssen.

Was bedeutet diese Lage für die Tarifverhandlungen? Halten Sie die Gewerkschaften stärker zurück?

Hoffmann: Warum sollten wir? Nehmen Sie die Chemie-Tarifrunde, die gerade läuft. Die chemische Industrie ist extrem erfolgreich und fährt hohe Gewinne ein. Da kann es ja wohl nicht angehen, dass man den Arbeitnehmern sagt, wir haben Krieg – und auf der anderen Seite macht man sich die Taschen voll.

Die Chemieindustrie steht nicht für die gesamte Wirtschaft.

Hoffmann: Natürlich gibt es Unternehmen, die in einer schwierigen Lage sind. Aber daran kann man nicht die Tarifverträge einer ganzen Branche ausrichten. Das wäre nicht klug, und das werden wir auch nicht machen. Im Übrigen bieten Tarifverträge genügend Flexibilität, um auf wirtschaftlich schwierige Lagen einzelner Unternehmen zu reagieren.