Berlin. Staatliche Hilfen sind gerade jetzt wichtig. Doch viele Familien brauchen mehr als ein paar zusätzliche Euro, findet unsere Autorin.

Herbst 2022. Wieder bereitet sich das Land auf einen schwierigen Winter vor. Wieder ist ungewiss, wie hart es wirklich wird. Das allein kann schon Angst machen.

2020 und 2021 war es das Coronavirus, in diesem Jahr ist es der Krieg und seine Folgen. Doch es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen den beiden Pandemiewintern und diesem Winter: Das Virus betraf jeden. Die Angst vor Ansteckung, die Angst vor Stillstand im Lockdown – das war zunächst erst einmal keine Frage der sozialen Schicht, der Herkunft oder des Kontostands. In diesem Winter wird das anders sein. Lesen Sie auch: 140-Milliarden-Plan der EU: So soll unser Strompreis sinken

Preisschock: Viele Familien müssen jetzt drastische Entscheidungen treffen

Julia Emmrich, Politik-Korrespondentin
Julia Emmrich, Politik-Korrespondentin © Anja Bley

Es geht ums Geld, und damit sind die Folgen klar: Es wird Familien geben, die so wohlhabend sind, dass die steigenden Preise keinerlei Auswirkungen auf ihren Alltag haben. Das wird die Minderheit sein. Die allermeisten Menschen in Deutschland dagegen werden mehr oder weniger drastische Entscheidungen treffen müssen. Nicht nur bei der Frage, was man sich jetzt noch zum Essen, zum Anziehen, zum Leben leisten kann. Sondern auch bei der Planung über den Tag hinaus.

Viele tun es ja jetzt schon: Zwei von drei Deutschen sagen in einer aktuellen Umfrage, dass sie Ende des Monats weniger Geld zur Verfügung haben als im vergangenen Herbst. Jeder Dritte hat Angst, dass er in den kommenden Monaten seine Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Jeder Zweite scheut sich davor, jetzt noch größere Anschaffungen zu machen. Lesen Sie dazu auch unsere Umfrage: So hart treffen Energiekrise und Inflation die Bevölkerung

Energiepreise: Großteil der Entlastungen wirkt erst in einigen Monaten

Es ist richtig, dass die Ampel-Regierung mit milliardenschweren Entlastungen gegenzusteuern versucht. Doch viele der angekündigten Maßnahmen greifen erst in einigen Monaten. Naiv wäre es zudem zu glauben, dass ein paar Euro zusätzlich den immensen Druck nehmen, der auf Menschen mit geringem Einkommen lastet. Wer beim Blick aufs Konto seine Pläne begraben muss, wem die hohen Preise die Perspektiven rauben, wer einen zweiten Job annehmen muss, um sich die Drei-Zimmer-Wohnung für die vierköpfige Familie zu leisten, der steht eh schon, in diesem Winter aber erst recht, unter einer gigantischen Belastung.

Neben den finanziellen Hilfen muss deshalb eine zweite Frage in den Vordergrund: Wie kann es gelingen, dass Millionen Familien nach zwei maßlos anstrengenden Pandemiewintern jetzt endgültig die Kraft verlieren? Dass Kinder und Jugendliche, die die Existenzsorgen der Eltern tagtäglich erleben, nicht den Mut verlieren. Dass aus der Generation Corona eine Generation Dauerkrise wird. Auch interessant: 300 Euro Energiepauschale: Wie wird das ausgezahlt?

Längst warnen Bildungs- und Familienexperten vor dem, was sich da zusammenbraut: Existenzängste, Perspektivlosigkeit und Frust sind Gift für Kinder und Jugendliche, die nach Lockdown und Einschränkungen dringend Zuversicht und Förderung brauchen. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet, durch die Krise dürfte sich die Zahl zumindest mittelfristig noch erhöhen.

Krisenpolitik: Bund und Länder haben zu viel Zeit vertrödelt

Jetzt rächt sich, dass der Bund und die 16 Länder das vergangene Jahrzehnt mit ärgerlichem Gezerre ums Geld und überflüssigen Machtspielchen vertrödelt haben. Es gibt zu wenige Lehrer, zu wenige Erzieher, zu wenige Ganztagsplätze und zu wenige Therapieplätze für die vielen jungen Menschen, die jetzt Hilfe brauchen, um wieder Tritt zu fassen und sich vom Krisengefühl nicht verrückt machen zu lassen.

Zwei Dinge sind vollkommen klar: Deutschland muss in unabhängige Energiequellen investieren und die Preiskrise mit staatlichen Finanzhilfen abfedern. Eine dritte Sache ist aber genauso wichtig: das Land braucht ein dichtes, solide finanziertes Netz aus Kümmerern, Förderern, Mutmachern. Jeder Euro, der hier klug und rechtzeitig ausgegeben wird, kann später unbezahlbare Schäden verhindern. Auch interessant: Bürgergeld: Die wichtigsten Fakten zur Sozialreform

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.