Brüssel. Polen vor dem EU-Austritt? Der Gipfel in Brüssel brachte keine Annäherung. So wahrscheinlich ist es, dass das Land die Union verlässt.

Heftiger Streit zwischen der Europäischen Union und Polen: Ein Vermittlungsversuch beim Gipfel der EU-Regierungschefs in Brüssel scheiterte. Die EU droht dem Land mit dem Entzug von Milliardengeldern. Das vereinte Europa steht vor einer schweren Krise: Verlässt bald auch Polen die EU?

Polen gegen EU: Worum geht es in dem Streit?

Der Konflikt entzündet sich am Umbau des Justizsystems in Polen, durch den die rechtskonservative Regierungspartei PiS seit fünf Jahren Schritt für Schritt Richter und Staatsanwälte an die Kandare nimmt. Daraus ist ein Streit um den Vorrang von EU-Recht geworden. Denn die Brüsseler Kommission verlangt von der polnischen Regierung eine Korrektur der Justizreform und hat dafür Unterstützung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) erhalten.

Der EuGH sieht in der Justizreform einen Verstoß gegen EU-Recht. Doch die Regierung in Warschau lehnt ab, stützt sich auf ein angefordertes Urteil des polnischen Verfassungsgerichts: Danach hat der EuGH gar kein Recht, sich in die Justizreform einzumischen (die Kommission auch nicht), die nationale Verfassung stehe über EU-Recht.

Lesen sie auch: Seehofer will Vorschläge gegen illegale Einreise machen

Warum ist die Aufregung so groß?

In der EU herrscht die große Sorge, dass die Regierung versucht, zum Ausbau ihrer Macht die Unabhängigkeit der Justiz zu schwächen oder zu brechen. Richter und Staatsanwälte bringt sie unter ihre Kontrolle, schon bei der Berufung oder durch eine neue Disziplinarkammer.

Unliebsame Richter werden drangsaliert, Hunderte Beamte verloren bereits ihre Posten. Der rechtsnationale Justizminister Zbigniew Ziobro ist jetzt auch Generalstaatsanwalt, er kann jeden Staatsanwalt ohne Angabe von Gründen degradieren. Die Unabhängigkeit der Justiz ist aber ein Grundprinzip der europäischen Rechtsordnung.

Dass Polen nun nicht einlenkt, sondern auch die EU-Rechtsprechung dazu ignoriert und den Vorrang von europäischem Recht verneint, wird von Kommission, Rat und Parlament unisono als Angriff auf die gemeinsame Basis der EU verstanden.

Was kann die EU tun?

Direkt eingreifen kann sie nicht, Polen aus der EU ausschließen auch nicht. Sie droht aber damit, dem Land EU-Gelder zu kürzen – mit dem Hinweis darauf, dass die polnische Justiz mangelns Unabhängigkeit dieses Geld nicht ausreichend schützen kann.

Es geht zum einen um 24 Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds, die wegen des Streits vorerst blockiert sind. Zum anderen um rund 125 Milliarden Euro Fördergelder bis 2027 – um die einzufrieren, muss aber erst ein neuer „Rechtsstaatsmechanismus“ aktiviert werden.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zögert damit, denn gegen dieses Instrument ist wiederum eine Klage von Polen und Ungarn anhängig. Die EU könnte außerdem ein Verfahren vorantreiben, mit dem Polen am Ende die Stimmrechte im EU-Rat entzogen würden – das scheint aber nicht durchsetzbar.

Auch interessant: Polen: Nationalkonservative Regierung ist zerbrochen

Welche Rolle spielt die Kanzlerin?

Angela Merkel fürchtet eine Eskalation des Streits und mahnte beim Gipfel dazu, eine Lösung im Dialog mit Warschau zu suchen. Es gehe um ein grundsätzlicheres Problem, wie unterschiedlich das Verhältnis von EU und Mitgliedstaaten gesehen werde.

Ein Kompromiss, mit dem die polnische Regierung möglichst gesichtswahrend Teile des Justizumbaus zurücknehmen würde, ist aber nicht in Sicht: Premier Mateusz Morawiecki erneuerte beim Gipfels seinen Protest gegen die „Erpressung“, betonte allerdings auch Gesprächsbereitschaft. Lesen Sie auch: Abschied nach 16 Jahren: Was bleibt von Angela Merkel?

Auf der anderen Seite stehen eine Reihe von EU-Ländern unter Führung der Niederlande, die jetzt eine harte Linie mit schnellem Geldentzug verlangen. Auch aus dem EU-Parlament kommt massiver Druck, die Kommission als Hüterin der Verträge muss jetzt handeln.

Droht jetzt ein „Polexit“?

Dass der Konflikt in einem EU-Austritt Polens enden könnte, befürchtet die polnische Opposition ebenso wie EU-Politiker. Denn der Streit wird von Politikern der Regierungsmehrheit mit schärfsten Vorwürfen gegen das vereinte Europa angeheizt.

An der Spitze Justizminister Ziobro, ein Hardliner der rechten, eurokritischen Kleinstpartei Solidarna Polska, der von einem „hybriden Angriff“ der EU spricht, als sei man im Krieg. Ziobro schließt einen „Polexit“ als Option ausdrücklich nicht aus. PiS-Politiker sprechen von „Brüsseler Okkupanten“, die Polen auf die Knie zwingen und zu einem deutschen Land machen wollten; regierungsnahe Medien übernehmen diese Tonart.

Premier Morawiecki versichert aber, Polen wolle die EU nicht verlassen. Ein Austritt würde politisch und wirtschaftlich auch erhebliche Nachteile bedeuten, schon wegen der fehlenden EU-Milliarden. Die Opposition lehnt den „Polexit“ ohnehin vehement ab. In Umfragen befürworten stabil rund 80 Prozent der Bürger die EU-Mitgliedschaft.

Offen ist, wie sich die Stimmung verändert, wenn die EU tatsächlich Milliardenzahlungen stoppen und wegen des Justizproblems zum Beispiel auch die Zusammenarbeit in Rechtsfragen oder auf anderen Feldern einfrieren sollte.