Berlin. Bei Atomkraft und Klimaschutz geht die Grünen-Spitze bis an die Schmerzgrenze ihrer Anhänger. Für viele aber auch darüber hinaus.

Nach zehn Monaten als Teil der Ampel-Regierung haben sich die Grünen am Wochenende zu einem dreitägigen Präsenzparteitag getroffen. Sie nutzten das Treffen in Bonn, um miteinander zu verhandeln, welche Kompromisse sie bereit sind einzugehen in der Regierungsarbeit und wo die roten Linien verlaufen.

Die kurzfristig folgenreichste dieser Linien hatten die Delegierten gleich am Freitagabend gezogen: Mit erkennbaren Bauchschmerzen, aber am Ende großer Mehrheit hatten sie sich hinter den Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck für eine Einsatzreserve der beiden Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim gestellt.

Atomkraft: Grüne lassen Habeck nur wenig Spielraum

Die große Kontroverse zu diesem Thema, über die im Vorfeld spekuliert worden war, blieb aus. Doch die Partei, die eine ihrer wichtigsten Wurzeln in der Anti-Atomkraft-Bewegung hat, setzte enge Grenzen für den Weiterbetrieb der Kraftwerke: Keinen Tag länger als bis zum 15. April, ohne einen Weiterbetrieb des AKW Emsland und unter Einbeziehung des Parlaments unter diesen drei Bedingungen stimmte die Partei zu. Neue Brennelemente, die für eine Verlängerung über das Frühjahr hinaus nötig werden, lehnten die Grünen kategorisch ab. Für die Verhandlungen Habecks mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner im Atomstreit blieb damit denkbar wenig Spielraum.

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Dabei hatte sich die Partei in den vergangenen Monaten an anderen Stellen immer wieder bereit gezeigt, angesichts der Energiekrise auch Maßnahmen mitzutragen, die sie eigentlich ablehnt. Schwimmende und feste LNG-Terminals, mehr Kohleverstromung, Gaseinkäufe aus Ländern, die von den Ansprüchen der Grünen an eine wertegeleitete Außenpolitik Lichtjahre entfernt liegen – keine dieser Entscheidungen des grünen Wirtschaftsministers hatte großes öffentliches Murren ausgelöst.

Doch sie wurden aufmerksam registriert. Die Sorge, dass in der Krise die Klimapolitik aus dem Blick gerät, ist in Teilen der Partei groß. Am Sonntag brach sie sich Bahn in der Abstimmung über die Zukunft von Lützerath.

Luisa Neubauer, Klimaschutzaktivistin und Organisatorin von Fridays for Future, spricht beim Grünen-Bundesparteitag.
Luisa Neubauer, Klimaschutzaktivistin und Organisatorin von Fridays for Future, spricht beim Grünen-Bundesparteitag. © dpa | Kay Nietfeld

Kohlekraftwerke: Was Klimaaktivistin Luisa Neubauer den Grünen mitgibt

Vor wenigen Wochen hatten sich die grün geführten Wirtschaftsministerien von Bund und Nordrhein-Westfalen mit dem Energiekonzern RWE darauf verständigt, dass statt wie bisher gesetzlich festgeschrieben nicht erst im Jahr 2038 sondern schon im Jahr 2030 Schluss sein soll mit Kohlestrom im Rheinischen Revier. Während für mehrere Dörfer und Höfe damit die weitere Existenz gesichert werden soll, soll das Dorf Lützerath, das zu einem wichtigen Symbol der Klimabewegung geworden ist, dem Kohleabbau weichen.

Schon Klimaaktivistin und Grünen-Mitglied Luisa Neubauer, die am Sonntag eine Gastrede hielt, hatte diese Entscheidung kritisiert. Sie habe unter den Grünen in den vergangenen Monaten eine Art ökologischen Hyperrealismus beobachtet, sagte Neubauer in Bonn. Da würden klimafeindliche Entscheidungen so plausibel verteidigt, „wenn man still ist, hört man irgendwo ein Ökosystem weinen vor Rührung“.

Sie appellierte an die Delegierten, für den Erhalt des Ortes und gegen die Verstromung der Kohle darunter zu kämpfen. „Wenn RWE die im Deal ermöglichte Auslastung aller Kraftwerke in den 2020er Jahren nutzt, dann wird durch den Kohleausstieg 2030 keine einzige Tonne CO2 eingespart“, sagte Neubauer. In Lützerath manifestiere sich das große Ganze.

Lützerath: Warum ein kleines Dorf die Grüne Jugend wütend macht

Auch die Grüne Jugend sieht das so: Die Jugendorganisation hatte über das Wochenende Unterstützung gesammelt für ein Räumungsmoratorium für Lützerath, das Zeit verschaffen sollte für die Rettung des Ortes.

An den Gutachten, die Grundlage für die Vereinbarung gewesen seien, gebe es viele Zweifel, argumentierte Timon Dzienus, Co-Sprecher der Grünen Jugend. „Solange diese Zweifel an diesen Gutachten bestehen, solange dürfen in Lützerath keine Fakten der Zerstörung geschaffen werden“, sagte er, und schon der Applaus lies ahnen, dass ein großer Teil der Versammlung ihm Recht gab.

Die Parteiführung stieg deshalb selbst in den Ring, um die Einigung mit RWE zu verteidigen: Nach NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubauer und Landesumweltminister Oliver Krischer warb auch Parteichefin Ricarda Lang um die Zustimmung der Delegierten. Dass die Grünen nicht mehr streiten würden, das werde sie sich jedenfalls nicht mehr sagen lassen, sagte Lang zu Beginn ihrer Wortmeldung.

Machtprobe: Grünen-Vorstand setzt sich mit knapper Mehrheit durch

Die Abstimmung über ein Moratorium sei eine Abstimmung über die Frage, ob die Grünen die gesamte Einigung mit RWE mittragen würden, erklärte sie. „Ein Moratorium, das heißt keine Sicherheit für die Menschen im Rheinland, keine Sicherheit für den Kohleausstieg 2030“, sagte Lang und appellierte an die Delegierten, den Antrag abzulehnen.

Am Ende folgte eine Mehrheit dieser Position – doch es war denkbar knapp. 294 Delegierte stimmten für ein Moratorium, 315 dagegen. Für die Grüne Jugend war es ein großer Erfolg. Und für die Parteiführung und das grüne Kabinetts-Team eine deutliche Botschaft, dass die Partei bereit ist, auch ihnen Grenzen zu setzen. Auch dann noch, wenn die Grünen den Staat tragen würden wie Parteichef Omid Nouripour am Sonnabend gesagt hatte.

Die Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger, die sich für das Moratorium eingesetzt hatte, kündigte nach der Abstimmung auf Twitter an, dass der Streit für den Erhalt von Lützerath weitergehe. „Wir sehen uns auf den Protesten.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.