Jerusalem. Palästinenser warfen Steine, israelische Polizisten feuerten Gummigeschosse: Auf dem Tempelberg eskalierte die Gewalt. Wie es dazu kam.

Im Morgengrauen, mit dem Vogelzwitschern, begannen die Schüsse. Weit über Jerusalems Altstadt hinaus waren sie zu hören. Dumpfe Explosionen, aber keine Sirenen. Die Altstadt von Jerusalem, in der an diesem Wochenende Ostern, Ramadan und Pessach begangen wird, wurde am Freitag zum Zentrum der Gewalt.

Und wieder war es der Tempelberg, oder Haram Al-Sharif, wie die Muslime sagen, auf dem sich die Gewalt entzündete. Bei den heftigen Zusammenstößen zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischen Sicherheitskräften sind mehr als 150 Menschen verletzt worden. Wie der Palästinensische Rote Halbmond mitteilte, wurden am Freitag 153 Menschen in Krankenhäuser gebracht. Dutzende Verletzte seien zudem auf dem Gelände behandelt worden.

Es ist Ramadan, der heilige Fastenmonat der Muslime. Jeden Tag beten sie in der Al Aqsa-Moschee, der drittwichtigsten heiligen Stätte des Islam und der wichtigsten heiligen Stätte der muslimischen Palästinenser.

Israel: Ausschreitungen am Tempelberg mit vielen Verletzten

Der Freitag ist der Höhepunkt jeder Ramadanwoche, zigtausende Gläubige reisen an. Die meisten kommen, um zu beten. Es gibt aber auch die, die sich bepackt mit Hamas-Fahnen auf den Weg machen. Sie haben Transparente mitgebracht, auf denen Terroristen verherrlicht werden. Sie schwören, die Moschee zu verteidigen. Und etwas abseits haben einige schon Steine aufgeschichtet, um sie bei Bedarf als Geschosse einzusetzen.

So hatte es auch im Mai 2021 begonnen. Wenig später begann die elftägige kriegerische Auseinandersetzung mit der Hamas im Gazastreifen, bei der Tausende Raketen auf Israel abgefeuert wurden und 248 Menschen im Gazastreifen ums Leben kamen. Die Familien, die zwar überlebten, aber ausgebombt wurden, konnten großteils bis heute nicht in ihre Häuser zurück.

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Denen, die diesen Konflikt anheizen wollen, ist das egal. In den vergangenen Tagen rief die in Gaza regierende Hamas die Palästinenser wiederholt auf, in Massen zur Al-Aqsa-Moschee zu strömen, um sie „und unsere Nation” zu verteidigen. Der militärische Arm der Hamas in Gaza droht mit Angriffen auf Israel.

Zugleich zündeln jüdische Extremisten. Die Gruppe „Rückkehr auf den Berg” (gemeint ist der Tempelberg, Anm.) schrieb Preisgelder aus für alle, die sich mit Schafen auf den Weg zum Tempelberg machen, um die Tiere dort zu schlachten. Dass das ein klarer Verstoß gegen den fragilen Status quo wäre, der das Nebeneinander von Juden und Muslimen rund um den Tempelberg regelt, ist ihnen bewusst. Die israelische Polizei nahm Mitglieder der Gruppe fest, dennoch machten sich zwei Männer am Freitag mit einem Schaf Richtung Tempelberg auf. Für viele Muslime ist das ein Affront.

Israelische Sicherheitskräfte in Jerusalem.
Israelische Sicherheitskräfte in Jerusalem. © GHARABLI / AFP

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Freitagmorgen ging es Schlag auf Schlag. Israelische Sicherheitskräfte stürmten nach dem Morgengebet das Gelände der Al-Aqsa-Moschee. Palästinenser haben Steine in Richtung Klagemauer abgeworfen, man musste reagieren, erklärt die Polizei. Gruppen von Palästinensern attackierten die Sicherheitskräfte mit Steinen und Molotow-Cocktails. Und die Uniformierten reagierten: Sie feuerten Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse in die Menge – und auch ins Innere der Moschee.

Auf Videos, die von Augenzeugen in den frühen Morgenstunden im Inneren der Moschee gemacht wurden, sieht man Gläubige, mit Koran in der Hand, die weiter beten, während im Hintergrund Granaten gezündet werden. Man sieht viel Blut, man sieht Kinder, die von der Polizei mitgenommen werden. Bald ist von Dutzenden verletzten Palästinensern die Rede. Wenige Stunden später lag die Zahl der Verletzten laut Angaben des Roten Halbmond bereits weit bei über Hundert.

Ramadan ist jedes Jahr Zeit der Konflikte

Die Bilder vom Rauch in der Al-Aqsa-Moschee, von in Panik flüchtenden Gläubigen und Explosionen im Gebetsraum, sorgen für Zorn. Sie schockieren auch jene, die nicht mit der Hamas sympathisieren.

Seit Beginn des Ramadan am 2. April wurden bei Einsätzen der israelischen Armee im Westjordanland 16 Palästinenser durch israelische Soldaten getötet, unter ihnen auch Minderjährige und Kinder. Der Aufschrei nach jedem einzelnen Todesfall war groß, doch scheint nichts an die Symbolkraft heranzureichen, die von den Bildern der Kampfszenen in der Moschee ausgeht. Die Botschaft, die verbreitet wird lautet: Der israelische Besatzer greift unser Heiligtum an. Daran geknüpft ist der Aufruf, die Moschee zu verteidigen - auch mit Gewalt.

Israel wird seit Ende März von einer Terrorwelle erschüttert. Bei vier Attentaten in israelischen Städten kamen 14 Israelis ums Leben. Jerusalem, der Ausgangspunkt und das Zentrum der Eskalation im Mai 2021, bliebt bislang verschont. Das scheint sich nun zu ändern.

Eskalation am Tempelberg wird Belastungsprobe

Vor Beginn des Pessachfestes am Freitagabend wurden in ganz Jerusalem Truppen stationiert. Über Pessach hinweg die Grenzübergänge zum Westjordanland und nach Gaza geschlossen. Lücken im Grenzzaun werden überwacht.

Die Eskalation am Tempelberg wird auch für die israelische Regierung zur Bestandsprobe. Vor einer Woche hat die rechtskonservative Abgeordnete Idit Silman der Koalition den Rücken gekehrt. Seither steht die Regierung unter Premierminister Naftali Bennett im Parlament ohne Mehrheit da. Angesichts der Ausschreitungen am Tempelberg machte dann auch Mansour Abbas, Chef der islamischen mitregierenden Raam-Partei, klar, dass seine Geduld ein Ende hat: Angriffe seitens israelischer Sicherheitskräfte auf die Al-Aqsa-Moschee seien „eine rote Linie”. (mit dpa)

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