Paris. Frankreich vor der Stichwahl: Präsident Macron sagt im Exklusiv-Interview, was er für die kommenden Wochen im Ukraine-Krieg fürchtet.

Die TV-Debatte mit seiner Herausforderin Marine Le Pen am Vorabend hat keine Spuren hinterlassen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist entspannt, locker, bietet den Gästen Kaffee an. Er sitzt im sechsten Stock seiner Wahlkampf-Zentrale in der Rue du Rocher 63, mitten in Paris. An der Wand hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Avec Vous" (dt.: "Mit Ihnen"), das ihn lachend in einer Menschenmenge zeigt. Gegenüber befindet sich ein blaues Trikot der französischen Fußball-Weltmeister von 2018. Drei Tage vor der Präsidentschaftswahl empfängt Macron unsere Redaktion, unsere französische Partnerzeitung "Ouest-France" und das italienische Blatt "Corriere della Sera" zum Interview.

Herr Präsident, sollte Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden: Was würde dann mit Europa, was mit der deutsch-französischen Partnerschaft passieren?

Emmanuel Macron: Das Projekt, für das Marine Le Pen eintritt, ist der Ausstieg aus Europa. Im Grunde genommen will Marine uns systematisch das erklären, was sie anders machen würde als Le Pen. Aber Le Pen ist immer noch da.

Wie meinen Sie das?

Macron: Sie schlägt vor, den französischen Beitrag zum EU-Haushalt zu senken, auf den Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht zu verzichten, aus dem europäischen Energiemarkt auszusteigen, Franzosen bei der Jobvergabe gegenüber Ausländern zu bevorzugen, Grenzkontrollen wieder einzuführen wie zur Zeit von 1990. Es bedeutet den Ausstieg aus dem europäischen Klima-Projekt. Le Pen plädiert stattdessen für den Aufbau einer Art Allianz europäischer Nationen, die aber keine Europäische Union mehr ist, und für ein Bündnis mit Russland. Kurz: Es wäre das Ende der Europäischen Union und das Ende der deutsch-französischen Partnerschaft. Man muss das Kind beim Namen nennen.

TV-Debatte Macron gegen Le Pen: Das sagen die Franzosen

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    Russlands Präsident Wladimir Putin bedroht den Westen mit einer neuen atomaren Superwaffe – er hat am Mittwoch eine Interkontinentalrakete mit enormer Reichweite getestet. Wie muss die Antwort des Westens aussehen?

    Macron: Ich habe deshalb so sehr an der diplomatischen Front gekämpft, weil in der gegenwärtigen Lage jeder Tag, an dem Russland sich entscheidet, militärisch, diplomatisch oder taktisch ein Stück weiter zu gehen, seine Optionen für eine Rückkehr zur Normalität einschränkt. Es reduziert unsere Fähigkeit, einen dauerhaften Frieden aufzubauen. Angesichts der Kriegsverbrechen, die Russland begangen hat, der Art und Weise seiner Kriegsführung im Donbass und in Mariupol, der atomaren Provokationen Ende Februar muss man ganz klar sagen: Russland hat einen Willen zur Eskalation. Unsere Verantwortung liegt nun darin, der Ukraine zu helfen – finanziell und militärisch. Darüber hinaus müssen wir die Sanktionen verschärfen und den Druck auf Russland hoch halten. Aber wir müssen auch wachsam sein, dass wir bei keiner Eskalation nachgeben.

    Michael Backfisch (rechts) im Gespräch mit Emmanuel Macron (links).
    Michael Backfisch (rechts) im Gespräch mit Emmanuel Macron (links).

    Ist das Risiko der Eskalation heute so groß wie kurz nach Kriegsbeginn Ende Februar?

    Macron: Das Risiko ist sehr hoch. Der Test der russischen Interkontinentalrakete am Mittwoch ist besorgniserregend. Wir haben zwei große Risiken der Eskalation. Die vertikale Eskalation besteht in der Änderung des Krieges – hin zur Nutzung nicht konventioneller Waffen wie Chemiewaffen oder Nuklearraketen. Die horizontale Eskalation ist die Bereitschaft von verbündeten Ländern oder anderen Mächten, in den Krieg einzugreifen. Unsere Verantwortung liegt darin, alles zu tun, um eine Feuersbrunst zu verhindern. Der Krieg muss aufhören.

    Deshalb muss Europa neben seiner Politik des Drucks und der Sanktionen weiter mit unseren Partnern im Gespräch bleiben – am Persischen Golf, in Indien, in China. Es darf nicht zu einer Zersplitterung der Welt kommen. Es darf nicht sein, dass nur die USA und Europa Russland die Stirn bieten, und der Rest macht sich einen schlanken Fuß. Vor diesem Hintergrund haben Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien die Rolle von Vermittlern. Andernfalls hätten wir eine Unterjochung Europas zu befürchten. Früher oder später würde unser Europa auseinanderbrechen.

    Emmanuel Macron bei einem Wahlkampfauftritt in Saint-Denis.
    Emmanuel Macron bei einem Wahlkampfauftritt in Saint-Denis. "Das Projekt, für das Marine Le Pen eintritt, ist der Ausstieg aus Europa." © Kiran Ridley/Getty Images

    Sie sagen, Europa soll der Ukraine auch militärisch helfen. Heißt das, dass Europa auch schwere Waffen schicken sollte – im Falle von Deutschland auch Leopard-Panzer?

    Macron: Jeder nimmt seine Verantwortlichkeit gemäß seiner eigenen Balance wahr. Ich mische mich nicht in die Politiken anderer Länder ein. Wir stimmen uns alle sehr eng ab. Ich habe vorgestern mit Bundeskanzler Olaf Scholz über das Thema gesprochen. Wir liefern konsequent Militärgüter wie Milan-Panzerabwehrraketen an die Ukraine. Es gilt, auf diesem Weg weiterzumachen. Immer mit der roten Linie, nicht alle zusammen in einen großen Krieg einzutreten.

    Noch einmal: Sollte Deutschland Panzer an die Ukraine liefern?

    Macron: Einige Länder haben die Wahl getroffen. Diese Debatte wird im Herzen der deutschen Politik geführt. Diese Wahl obliegt selbstverständlich Deutschland, und wir respektieren das. Wir haben die gleiche Strategie wie Kanzler Scholz: Wir helfen den Ukrainern auf maximale Weise. Aber sind sorgsam darauf bedacht, niemals Kriegspartei zu werden.

    Deutschland ist in der Sanktionsfrage zurückhaltender als andere. Sehen Sie das Risiko einer Spaltung Europas?

    Macron: Nein. Wir haben es immer verstanden, eine Einheit zu bilden. Es ist normal, dass es unterschiedliche Vorsichtsmaßnahmen und Befindlichkeiten gibt. Uns allen ist bewusst, dass wir vor wichtigen Entscheidungen stehen. Ich sage das umso mehr mit einem Sinn für Verantwortlichkeiten, weil Frankreich viel weniger von russischem Gas oder Öl abhängt als andere Länder. Wir haben einen vernetzten Markt. Ich baue auf Europa. Wir sind solidarisch.

    Italiens Premier Mario Draghi hat kürzlich gesagt, dass er Sie unterstützt. Gleichzeitig fügte er hinzu, es sei nutzlos, mit Putin zu reden. Wie sehen Sie das?

    Macron: Man muss weiter mit Putin sprechen. Aber jeder von uns hat seit den Bildern von Butscha nicht mehr zum Telefonhörer gegriffen. Wir waren alle fassungslos und niedergeschmettert. Ich habe Putin in der Vergangenheit jedes Mal kontaktiert, wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mich dazu aufgefordert hat. Man darf nicht vergessen, dass Selenskyj das ausdrücklich will. Hier ist unsere Rolle nützlich. Wir müssen den Frieden vorbereiten. Eines Tages wird ein Waffenstillstand unterzeichnet werden. Es wird Garantiemächte geben – und wir gehören dazu. Wir müssen sehr wachsam sein.

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    Ich sage das mit allem Ernst und aller Zurückhaltung. Aber wenn wir aus Erschöpfung die Wahl treffen, nicht mit Putin zu reden, geben wir die Verantwortung ab. Dann treffen wir aber auch die Entscheidung, dass am Tag danach nicht die Europäer den Frieden in Europa aufbauen. Wir müssen an dem Dialog mit Russland festhalten – selbst wenn es sehr hart und manchmal auch ineffizient ist.

    Sie sagen, die Gespräche mit Putin seien sehr hart. Man hat den Eindruck, dass es bei Ihnen nach den vielen Unterredungen neben der physischen Müdigkeit auch eine fast moralische, psychische Müdigkeit gibt.

    Macron: Ja. Es ist hart, wenn Sie stundenlang erleben, dass die Fakten geleugnet werden. Wenn Sie stundenlang mit Präsident Selenskyj reden oder mit Menschen, die den Schrecken des Krieges mit den ganzen Zerstörungen erlebt haben. Und ihnen sitzt dann jemand gegenüber, der alles leugnet, darüber lacht und von Inszenierungen spricht. Wir müssen trotzdem weitermachen.

    Das hat Sie geprägt?

    Macron: Natürlich, aber seit Februar schon. Ich glaube, dass das historisch unsere Rolle ist. Für mich ist das sehr wichtig, fast eine Obsession. Europa steht auf dem Spiel. Und die Europäer müssen am Tisch sitzen, um den Frieden in Europa aufzubauen.

    Was ist Ihre Erklärung für diesen Krieg?

    Macron: Putin ist der Präsident Russlands. Die Geschichte wird zeigen, dass in den vergangenen Jahren Folgendes passiert ist: Ein Mann, der in Sankt Petersburg geboren wurde, der lange in Deutschland gelebt hat, der die ersten zehn Jahre seines politischen Lebens an der Rehabilitierung Russlands im Konzert der Nationen gearbeitet hat – dieser Mann hat systematisch alles zerstört, was er aufgebaut hatte. Dies erinnert an die imperialen Träume des 20., ja sogar 19. Jahrhunderts. Putin ist ein intelligenter Mann, ich bestreite das nicht. Ich will immer noch daran glauben, dass es in ihm etwas gibt, was ihn dazu treibt, dass er der Geschichte und seinem Volk etwas anderes als Chaos und Schande hinterlässt. Daran halte ich noch fest. Die Europäer müssen am Tag des Waffenstillstands am Tisch sitzen, um die kollektive Sicherheit zu garantieren und den Frieden auf dem Kontinent aufzubauen.

    Alle Europäer?

    Macron: Natürlich. Jeder nach seiner Berufung. Frankreich, Deutschland, Italien, die gesamte Europäische Union sollte am Tisch sitzen.

    Schlagabtausch im TV: Macron liegt in vielen Umfragen vorne. Manche sehen aber Le Pen als Siegerin der Stichwahl.
    Schlagabtausch im TV: Macron liegt in vielen Umfragen vorne. Manche sehen aber Le Pen als Siegerin der Stichwahl. © Ludovic MARIN / AFP

    Sie wollen einen Premierminister berufen, der für ökologische Planung zuständig sein soll. Bis wann peilen Sie den Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle an?

    Macron: Der Ausstieg aus Kohle und Gas ist in Frankreich zu 100 Prozent möglich. Bei Gas ist es auf der europäischen Ebene komplizierter. Deutschland oder Italien hängen sehr viel mehr von Gasimporten ab als Frankreich. Es geht hier nicht nur um eine nationale, sondern um eine europäische grüne Strategie. Wir können den Ausstieg aus fossilen Energien beschleunigen, wenn wir verstärkt die erneuerbaren Energien einschließlich Atomkraft ausbauen. Aus Öl können wir nicht aussteigen, solange wir nicht die Mobilität dank Wasserstoff-Technologie entsprechend hochfahren. Wir brauchen zudem den Übergang zu Hybrid-Fahrzeugen – die über einen Elektro- und einen Verbrennungsmotor verfügen. Das geht nicht zu 100 Prozent in fünf Jahren. In zehn Jahren könnte es hingegen möglich sein.

    Welche Anstrengungen wollen Sie den Bürger zumuten, damit diese ökologische Wende gelingt?

    Macron: Es beginnt mit dem entsprechenden Unterricht an den Schulen. Das ist das mächtigste Instrument, um Verhaltensweisen zu ändern. Unsere Bürger haben in den vergangenen Jahren ihre Lebensweise enorm verändert. Wir müssen den Weg allerdings konsequent zu Ende gehen. Wenn wir zu einer Kreislaufwirtschaft mit Recycling kommen wollen, spielt die Mülltrennung eine Schlüsselrolle. Diese Anstrengung verlange ich von unseren Bürgerinnen und Bürgern.

    Aber auch die Einsparung von Energie ist wichtig. Wir müssen zu einem neuen Maßhalten beim Energieverbrauch finden. Die Renovierung von Gebäuden und der Fahrzeugbau gehören ebenfalls dazu. Oder der weiche Transport – das Fahrrad oder der öffentliche Verkehr.

    Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

    Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de