Berlin. Grünen-Chef Omid Nouripour spricht über den Corona-Herbst und seine eigene Infektion - und er sagt, warum die Ukraine gewinnen soll.

Nach seiner Corona-Infektion ist Omid Nouripour zurück bei der Arbeit, und er hat sein Bundestagsbüro umdekoriert. Bisher fanden sich dort vor allem Belege dafür, dass der Grünen-Chef ein wirklich großer Fan von Eintracht Frankfurt ist. Das Foto der Meistermannschaft von 1959 steht nun aber nicht mehr im Mittelpunkt. Blickfang ist ein Porträt des früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU), den Nouripour ebenfalls bewundert.

Sie haben sich vor fünf Wochen mit dem Coronavirus infiziert. Geht es Ihnen wieder gut?

Omid Nouripour: Nein, leider nicht. Ich bin immer noch erschöpft und habe Schwindelanfälle. Mein Arbeitspensum erhöhe ich nur schrittweise. Gestern war ich zwei Stunden früher als normal zu Hause. Mein Arzt sagt, er habe jeden Tag Patienten, die wochenlang die Folgen der Erkrankung spüren. Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei. Das merke ich nun am eigenen Leib.

War es klug, die ganzen Schutzmaßnahmen aufzuheben?

Wir haben doch alle den Wunsch, unser Leben vor der Pandemie zurückzubekommen. Auf der anderen Seite müssen wir den Herbst vorbereiten. Stand jetzt haben wir dann nicht einmal eine rechtliche Grundlage für eine Maskenpflicht. In dieser Frage bin ich ganz bei unserem Gesundheitsminister.

Sie wollen das Infektionsschutzgesetz also wieder schärfer fassen.

Im Augenblick spricht nichts dafür, dass wir nochmal einen vermaledeiten Lockdown brauchen werden. Aber wir müssen vorbereitet sein, falls wir im Herbst eine weitere Welle bekommen. Die Länder müssen dann in der Lage sein, Maßnahmen zu ergreifen. Dabei reden wir nicht über harte Maßnahmen, sondern über Basisschutzmaßnahmen.

Was zählen Sie dazu?

Man muss die Maßnahmen steigern können, wenn sich eine Notlage entwickelt. Das beginnt mit der Maskenpflicht und Abstandsregeln und geht weiter mit Zugangsregeln wie 3G, also für Geimpfte, Genesene und Getestete. Wir brauchen eine Rechtsgrundlage, die so angepasst ist, dass das Notwendige vor Ort gemacht werden kann.

Wie lange wollen Sie damit warten?

Wir brauchen eine Einigung, so schnell es geht. Je früher wir auf den Herbst vorbereitet sind, desto besser ist es. Länder und Kommunen brauchen einen Vorlauf. Es geht darum, die Fehler der letzten beiden Jahre nicht zu wiederholen. Der Sommer darf nicht ungenutzt verstreichen.

Wie sieht im Herbst sicherer Schulunterricht aus?

Mein Bundesland Hessen beispielsweise macht große Fortschritte beim Einbau von Luftfiltern in Klassenräumen. Ob das reicht, wird man sehen. Ich hoffe nicht, dass wir wieder Masken im Unterricht brauchen. Klar ist, dass wir alles tun müssen, damit es nicht mehr flächendeckend zu präventiven Schulschließungen kommt.

Was soll für den Arbeitsplatz gelten?

Wir stellen es weiterhin den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Parteizentrale anheim, ob sie ins Büro kommen oder von zu Hause aus arbeiten. Arbeitgeber könnten die Homeoffice-Regelung wieder flexibler ausgestalten. Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören, sollten weiter die Möglichkeit haben, das Homeoffice zu nutzen.

Ist die allgemeine Impfpflicht endgültig vom Tisch?

Für die Impfpflicht gibt es derzeit keine politische Mehrheit. Ich finde das bedauerlich und habe für eine Impfpflicht gestimmt. Derzeit ist es wichtig, dass ältere und vorerkrankte Personen sich eine vierte Impfdosis holen, um ihren Impfschutz aufzufrischen. Die Bundesregierung hat mit Impfstoffbestellungen für den Herbst vorgesorgt: Jede Person, die eine Viertimpfung erhalten möchte, kann diese auch bekommen. Und ich vermute, dass wir dieses Jahr für bestimmte Gruppen auch über eine fünfte Impfung reden werden.

Wie viele Impfungen hatten Sie, als Sie sich infizierten?

Ich bin dreimal geschützt. Trotzdem hat es mich ordentlich erwischt. Und nach wie vor bin ich nicht so fit wie vorher.

Ist es ein Problem für die Pandemiebekämpfung, dass alle Aufmerksamkeit dem Krieg in der Ukraine gilt?

Es gilt für die Pandemie, es gilt für das Klima: Krisen warten nicht darauf, dass der Ukraine-Krieg vorbei ist. Es ist unser Job, Lösungen für die Herausforderungen zu finden, die sich stellen.

Soll die Ukraine diesen Krieg gewinnen?

Ja.

Was bedeutet das?

Die Ukrainer müssen ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Freiheit zurückerlangen.

Setzt das die Rückgabe des Donbass und der Krim voraus?

Wir werden keinen Quadratzentimeter okkupierten ukrainischen Bodens anerkennen. Aber wir sagen der Ukraine nicht, was sie zu tun hat. Wenn sie diese Territorien zurückerobern will, dann unterstützen wir sie. Und wenn sie verhandeln will, dann unterstützen wir sie auch.

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Warum sagt der Bundeskanzler nicht, dass die Ukraine gewinnen soll?

Diese Debatte über die Worte irritiert mich etwas. Ich sehe das nicht anders als

Olaf Scholz oder Annalena Baerbock.

Können Sie die Enttäuschung der Ukrainer über die militärische Unterstützung aus Deutschland verstehen?

Ich habe viele Kontakte in das Land, und mein Eindruck ist: Die Ukraine ist nicht mit den Entscheidungen, sondern zuweilen mit der Geschwindigkeit von Waffenlieferungen unzufrieden. Und das bezieht sich nicht nur auf Deutschland, sondern auf ganz verschiedene Akteure. In dieser Notlage muss man Verständnis für die Ungeduld haben. Unter dem Strich wissen auch unsere ukrainischen Freunde, dass wir im Rahmen des Möglichen an ihrer Seite stehen.

Was ist möglich? Würde die Lieferung von Kampfpanzern eine rote Linie überschreiten?

Wir müssen die Balance halten zwischen beiden Zielen: Eine Entgrenzung des Krieges zu vermeiden und der Ukraine beizustehen. Die Maßnahmen, die dafür notwendig sind, ändern sich fast wöchentlich. Ich würde mich vor roten Linien hüten.

Wie denkt die grüne Parteibasis über die Waffenlieferungen?

Ich erlebe, dass die allermeisten mit sehr klarem Blick die Notwendigkeit sehen, Verantwortung zu übernehmen, und Sie unterstützen den Kurs. Wir sind in einer Zeit, in der wir nicht sein wollen, und tun Dinge, die wir nicht tun wollen. Aber wir können erklären, warum wir das tun. Wir werden sicher an der restriktiven Rüstungsexportpolitik, für die wir Jahre gekämpft haben, festhalten. Aber die Ukraine braucht unseren Beistand.

Die Wirtschaftssanktionen schwächen Russland bisher nicht entscheidend. Hat der Westen die Kraft für ein Gas-Embargo?

Sanktionen wirken nie sofort. Und der Zerfall des Rubels ist nur ein Beispiel für die große Wirkung unserer Sanktionen. Wir brauchen einen Einfuhrstopp für russisches Gas - so schnell es geht. Das wird in Deutschland länger dauern als bei Kohle und Öl. Wir haben eine fahrlässig herbeigeführte, viel zu große Gas-Abhängigkeit von Russland.

Was ist, wenn Putin uns morgen den Gashahn zudreht?

Wir treffen Vorkehrungen, um unabhängig von Putins Gas zu werden und gleichzeitig die Energieversorgung sicherzustellen. Wir diversifizieren unsere Gaslieferungen, bauen Terminals für Flüssiggas und beschleunigen den Ausbau der Erneuerbaren. Aber klar ist, dass ein abrupter Stopp eine gewaltige Herausforderung wäre. Auch ohne den Komplettausstieg erleben wir gerade einen erheblichen Preisanstieg, ganz besonders bei Energie. Wir werden schauen, wie wir die Bürger über die beiden Entlastungspakete hinaus unterstützen können. Wahr ist auch: Wenn wir eine Inflation von sieben Prozent aufwärts haben, werden wir nicht alles ausgleichen können.

Unterstützen Sie das Klimageld, das Sozialminister Heil vorschlägt?

Beim Klimageld werden wir darauf achten, dass auch Klima drin ist.

Heißt?

Das Klimageld muss - das sagt schon der Name - auch einen Steuerungseffekt beim Klimaschutz haben. Diesen erkenne ich in dem bisherigen Vorschlag nicht. Wir können in dieser Krise nicht Gelder ausgeben, ohne die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen mitzudenken. Sonst werden wir in Zukunft sehr viel mehr ausgeben müssen.

Sie wollen sagen, dass der soziale Ausgleich nicht zu groß werden soll, damit die Menschen mehr Energie sparen.

Nein, andersrum: Wir müssen Anreize schaffen, von fossilen auf erneuerbare Energien und auf Energieeffizienz umzusteuern - und den Menschen dann beim Umstieg die notwendige Unterstützung zukommen lassen. Über die Details müssen wir in der Koalition miteinander reden.

Woher nehmen Sie das Geld, das Sie ausgeben wollen?

Der Ampel ist klar, dass wir einen großen Modernisierungsstau in unserem Land auflösen müssen. Klimaschutz, Digitalisierung und der soziale Ausgleich sind dabei die wichtigsten Pfeiler. Wir werden darüber sprechen müssen, wie wir das gut finanziert bekommen.

Über höhere Steuereinnahmen vielleicht?

Es gibt momentan einzelne Unternehmen, die als Trittbrettfahrer der Inflation aus dem Krieg Kapital schlagen. Daher wäre eine sogenannte Übergewinnsteuer eine gerechte Möglichkeit, mehr Geld einzunehmen und die Preise zu dämpfen - wenn sie umsetzbar ist.

Um die Inflation zu bekämpfen, schlagen Ökonomen auch längere Arbeitszeiten vor. Wie denken Sie über eine 42-Stunden-Woche - oder über die Rente mit 70?

Hauptgrund für die Preissteigerung ist der Krieg Putins und doch nicht, dass die Deutschen zu wenig arbeiten. Ich kann nur davor warnen, Schärfe in die anstehenden Tarif-Verhandlungen zu bringen. Wir brauchen eine kluge Geldpolitik der EZB und wir brauchen Entlastungsmaßnahmen. Aber vor allem müssen wir die Ursachen der Inflation angehen. Und diese sind vor allem die russische Aggression im Osten Europas sowie unsere klimaschädliche Abhängigkeit von Fossilen. Ich begrüße ausdrücklich die konzertierte Aktion des Bundeskanzlers, da er neben der Arbeitnehmerseite auch die Arbeitgeberseite in die Verantwortung nimmt und ein besonderes Augenmerk auf die für beide Seiten wichtige positive Entwicklung der Binnenkonjunktur legt.

In der Koalition droht Streit auf mehreren Ebenen. Wie sturmfest ist die Ampel?

Sturmfest. Das haben doch die letzten Monate gezeigt. Wir haben gerade ein Sondervermögen für die Truppe beschlossen, wir haben Milliarden in die Hand genommen, um die Menschen in diesem Land zu entlasten. Und wir bringen eine ganze Reihe dringend erforderlicher Reformen auf den Weg - etwa beim höheren Mindestlohn oder beim BAföG . Wir stehen vor großen, teils globalen Herausforderungen, die wir gemeinsam angehen.

Wie ist die Stimmung in der Koalition?

Fokussiert. Alle wissen, dass wir nur gemeinsam Erfolg haben werden.

Sie haben in Ihrem Bundestagsbüro neuerdings ein Porträt des früheren Bundestagspräsidenten und CDU-Politikers Norbert Lammert hängen. Ist das ein zartes schwarz-grünes Signal?

Nein, das ist ein Zeichen meiner Hochachtung und Wertschätzung seiner Person und hat mit Parteipolitik nichts zu tun. Ich habe ihn als Parlamentspräsidenten stets als einen aufrechten Kämpfer für unsere Demokratie und einen unabhängigen, brillanten Kopf erlebt. Wir sind uns freundschaftlich verbunden.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.