Warschau. „Minute des Schreiens“: Nach dem Tod einer Schwangeren wächst im Nachbarland der Widerstand gegen das restriktive Abtreibungsgesetz.

Anfang November ist in Polen traditionell die Zeit der Lichtermeere. Millionen Menschen pilgern zu Allerheiligen auf die Friedhöfe des Landes, um Kerzen zu entzünden und an die Toten zu erinnern. Diesmal jedoch leuchten die Lichter nicht nur an Gräbern, sondern auch vor dem Verfassungstribunal in Warschau.

Am Wochenende demonstrierten dort und in anderen Städten Zehntausende zum Gedenken an „das erste Todesopfer des richterlichen Abtreibungsverbots“, wie liberale Aktivistinnen erklären. „Nicht eine Einzige mehr“, lautet ihr Motto.

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Sie verweisen damit auf den Tod einer 30-Jährigen im südpolnischen Pszczyna. Die Frau war Ende Oktober nach einer Fehlgeburt gestorben – mutmaßlich, weil sich die Ärzte weigerten, den schwer geschädigten Fötus abzutreiben. Das Klinikpersonal wartete, bis das Herz des Kindes von selbst aufhörte zu schlagen. Zu spät für die Mutter. Sie erlag einem septischen Schock.

Abtreibungsverbot in Polen: Haftstrafen bei Missachtung

In dem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft, und das kann dauern. Die Ergebnisse dürften aber ohnehin wenig an der Eskalation des Kulturkampfes ändern, der in Polen derzeit wieder mit enormer Wucht tobt. Für die meisten liberal denkenden Menschen im Land steht auch ohne Staatsanwaltschaft fest, wer die wahre Schuld an der Tragödie in Pszczyna trägt. Es ist die rechtskonservative PiS-Regierung, die dem Druck selbst ernannter Lebensschützer aus fundamentalkatholischen Kreisen nachgegeben hat.

Und es sind die Mitglieder des regierungstreuen Verfassungstribunals, die vor gut einem Jahr ein fast vollständiges Abtreibungsverbot in Polen durchgesetzt haben. Das Gericht erklärte Schwangerschaftsabbrüche damals für grundsätzlich verfassungswidrig. Die PiS goss das Urteil anschließend in Gesetzesform.

Seit Anfang des Jahres sind Abtreibungen demnach selbst dann verboten, wenn ein ungeborenes Kind so schwere Fehlbildungen aufweist, dass es außerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähig ist. Wer gegen die Regel verstößt, muss mit mehrjähriger Haft rechnen. Vermutlich zögerte das Klinikpersonal in Pszczyna genau deshalb: aus Angst vor Strafverfolgung.

Bei akuter Gefahr für das Leben der Mutter wäre ein Eingriff zwar rechtlich möglich gewesen. Doch war die Lage medizinisch eindeutig? Noch gibt es im konkreten Fall keine abschließenden Antworten. „Dieser Tod ist eine Anklage“, sagen dennoch die Kritiker des geltenden Rechts. Zu Zwangslagen wie in Pszczyna dürfe es gar nicht erst kommen. Fachleute verweisen zudem auf bis zu 200.000 illegale Abtreibungen pro Jahr in Polen. Und auf die teils erheblichen Risiken, die damit verbunden sind. Lesen Sie auch: Das Recht auf Abtreibung steht in den USA auf der Kippe

PiS-Chef Kaczynski – strenger Katholizismus und sonst nichts

Das Recht auf Leben, sagen die Liberalen im Land, sei nicht vom Recht der Frauen auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu trennen. Die Medizinrechtlerin Jolanta Budzowska, die den Fall in Pszczyna öffentlich machte, schrieb bei Twitter schlicht: „Es ist Zeit für einen Neustart.“ Den jedoch dürfte es mit der regierenden PiS kaum geben, zu deren Stammwählerschaft viele erzkonservative Menschen zählen.

Parteichef Jaroslaw Kaczynski selbst stellte angesichts früherer Frauenproteste klar: „Das katholische Wertesystem ist die einzige ethische Ordnung, die wir in Polen kennen. Alles andere ist Nihilismus.“ Wer sich gegen die Kirche stellt, handelt demnach gegen alle Moral. Solche Vorgaben wiederum machen die PiS anfällig für den Druck fundamentalistischer Lebensschützer. Diese „Ultras“ treiben die Partei seit vielen Jahren vor sich her.

Vor allem ein Name fällt dabei immer wieder: Kaja Godek. Die heute 39-Jährige brachte 2008 ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt – gegen den Rat der Ärzte, die eine Abtreibung empfahlen. Als gläubige Katholikin sah sie darin einen Fall von versuchter Kindstötung. Godek schloss sich daraufhin dem Verein „Pro – Recht auf Leben“ an und half, mehrere Hunderttausend Unterschriften für das Projekt eines totalen Abtreibungsverbotes zu sammeln.

Noch zu Zeiten der liberal-konservativen Regierung von Premier Donald Tusk legte der Verein eine Bürger-Gesetzesinitiative vor und erzwang eine Parlamentsdebatte. Die mehrfache Mutter Godek wurde damals zum Gesicht der Pro-Life-Bewegung in Polen. Die Popularität half. Nach der Regierungsübernahme der PiS 2015 fand das Abtreibungsverbot eine Mehrheit im Sejm.

Neuer Vorstoß der Lebensschützer: „Die Hölle plus für Frauen“

Angesichts von Massenprotesten gegen das Abtreibungsverbot zögerte Kaczynski dennoch – und überließ die Entscheidung dem Verfassungstribunal. Die Opposition empörte sich über das „Pseudourteil eines Pseudogerichts“. Am Ende jedoch halfen keine Demonstrationen. Das geänderte Abtreibungsrecht trat in Kraft. Doch damit nicht genug. Für Godek und ihre Mitstreiter war der Erfolg ein Ansporn.

Am selben Tag, an dem die Tragödie in Pszczyna bekannt wurde, ließ Parlamentspräsidentin Elzbieta Witek (PiS) ein weiteres Gesetzesprojekt der Lebensschützer zu Beratungen im Sejm zu. Wie die liberale „Gazeta Wyborcza“ berichtet, sollen künftig ausnahmslos alle Abtreibungen als Kindstötung gewertet werden. Das gelte selbst dann, wenn das Leben der Mutter bedroht oder die Schwangerschaft das Resultat einer Vergewaltigung sei. Und das, so urteilte die Zeitung, wäre dann „die Hölle plus für Frauen“.

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