Berlin. Der erste Queer-Beauftragte Deutschlands spricht über sein Coming-out – und wie eine Familie hierzulande künftig aussehen kann.

Der 42-jährige Sven Lehmann ist ein Pionier, erstmals hat die Bundesregierung einen Beauftragten für die Rechte der LGBTQIA-Gemeinschaft eingesetzt. Damit sind Homosexuelle, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle und alle gemeint, die sich selbst nicht als heterosexuell bezeichnen.

Im Interview spricht er über sein eigenes Coming-out, erlebte Diskriminierung und wie er das Familienrecht modernisieren will.

Herr Lehmann, Ihr Titel lautet Beauftragter für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt: Was bedeutet das?

Sven Lehmann: Teile unserer Gesellschaft sind noch nicht so weit, Menschen, die von der traditionellen heterosexuellen Norm abweichen, grundsätzlich zu akzeptieren. Deshalb brauchen wir einen Queer-Beauftragten in Deutschland der dazu beiträgt, dass alle Menschen hier frei, sicher und gleichberechtigt leben können.

Das betrifft zum Beispiel transgeschlechtliche Personen, denn für sie gelten noch immer diskriminierende Gesetze, die wir abschaffen wollen. Es betrifft aber auch Schwule und Lesben; trotz der Ehe für alle sind auch sie tagtäglich Diskriminierung, Gewalt und Beleidigungen ausgesetzt. Das ist die Realität in Deutschland 2022: Homofeindlichkeit fängt auf dem Schulhof an und hört im Profi-Fußball nicht auf. Deswegen brauchen wir Maßnahmen gegen Diskriminierung.

Haben Sie Gewalt oder Diskriminierung selbst erlebt?

Lehmann: Ja, ich bin seit 20 Jahren mit meinem Mann zusammen, auch wir wurden beispielsweise schon aus einem vorbeifahrenden Auto heraus beschimpft, nur weil wir Hand in Hand gingen. Und natürlich kenne auch ich Hasskommentare im Internet. Es gibt daher immer noch viele Menschen, die am Arbeitsplatz, in der Schule, im Studium oder im Sportverein ihre Homosexualität geheimhalten.

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Muss eigentlich der neue Queerbeauftragte selbst zur LGBTQIA-Gemeinschaft gehören?

Lehmann: Ich bin froh zur Community zu gehören. Aber für uns ist auch die Solidarität der Heterosexuellen extrem wichtig. Ob das beim Christopher Street Day ist, auf dem Heterosexuelle mitmarschieren oder wenn sie öffentlich für eine Gesellschaft eintreten, in der niemand Angst haben muss.

Für viele ist das Coming-out ein einschneidender Moment im Leben, wie war das bei Ihnen?

Lehmann: Für mich war mein Coming-out sehr schwierig. Ich komme aus einer Familie, die viel Angst vor dem Thema Homosexualität hatte, durch die Aids-Krise der 80-er und 90er-Jahre, durch den Paragrafen 175, der bis 1969 Homosexualität zur Straftat erklärte. Meine Eltern sorgten sich auch, dass ich berufliche Nachteile haben könnte oder gesellschaftlich isoliert werden würde.

Das ist ein Grund, warum sich noch immer viele Schwule und Lesben nicht outen, sie verbinden ihre Homosexualität mit etwas Negativem, weil sie die Ablehnung der anderen in ihrem Inneren übernommen haben. Nicht ohne Grund haben sehr viele schwule, lesbische, bisexuelle, transgeschlechtliche Menschen einen Hang zur Depression, ein erhöhtes Risiko für Angststörungen und Suizidalität. Deswegen war mein Coming-out die beste Entscheidung meines Lebens, es hat mich frei gemacht, frei zu leben und zu mir zu stehen.

Sven Lehmann ist seit Januar 2022 im Amt. Er kämpft für Freiheit, Gleichberechtigung und Sicherheit.
Sven Lehmann ist seit Januar 2022 im Amt. Er kämpft für Freiheit, Gleichberechtigung und Sicherheit. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wann war das?

Lehmann: Ich war 22 und hatte mich in einen Mann verliebt. Übrigens, mit diesem Mann bin ich immer noch zusammen.

Früher haben Sie sich nie zu einem Mann hingezogen gefühlt?

Lehmann: Ich war davor lange mit einer Frau zusammen und sehr glücklich.

Ihr Partner ist der Grüne Kölner Landtagsabgeordnete Arndt Klocke, wie leben Sie Ihren Alltag?

Lehmann: Wir leben in Köln zusammen, wo auch mein Wahlkreis ist, Berlin ist mein Zweitwohnsitz. Mir ist gemeinsame Zeit mit meinem Mann sehr wichtig, die Wochenenden verbringen wir entweder in Köln oder Berlin.

Die Abkürzung Ihres Jobtitels heißt Queer-Beauftragter, wofür steht queer eigentlich?

Lehmann: „Queer“ ist der Versuch, alle Menschen, die nicht heterosexuell und nicht cis-geschlechtlich sind, unter einem Dachbegriff zu versammeln. Cis-geschlechtlich bedeutet, sich mit dem Geschlecht zu identifizieren, das einem mit der Geburt zugewiesen wurde. Ich bin zum Beispiel ein schwuler cis-geschlechtlicher Mann, das heißt, ich identifiziere mich als Mann, finde mich aber unter dem Label queer wieder, weil ich schwul bin.

Die Bundesregierung will einen nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erarbeiten, worum geht es dabei?

Lehmann: Eine diskriminierungsfreie Gesellschaft ist mehr als die Abwesenheit von diskriminierenden Gesetzen. Wir müssen bereits in Kitas und Schulen ein Klima schaffen, das Vielfalt als Selbstverständlichkeit versteht. Auch in der Pflege müssen Mitarbeitende wissen, dass eine Person, die lesbisch oder schwul ist, nicht zwangsgeoutet wird. Und wir müssen fragen, sind Polizei und Justiz schon weit genug beim Schutz von queeren Menschen?

Dafür müssen wir Personal schulen. Die meisten Bundesländer haben solche Aktionspläne, der Bund bisher aber noch nicht. Wir werden uns deshalb mit allen Ministerien zusammensetzen und verbindliche Maßnahmen für die nächsten Jahre entwickeln.

Wie viel Geld will die Bundesregierung dafür ausgeben?

Lehmann: Es stehen jedes Jahr 70 Millionen Euro für den Aktionsplan bereit, das ist nicht viel im Bundeshaushalt. Das Geld wird aber dringend benötigt, viele Beratungsstellen zum Beispiel arbeiten ehrenamtlich, diese Strukturen und Einrichtungen können wir damit besser ausstatten und so dazu beitragen, dass jeder, der Hilfe braucht, sie auch bekommt.

Wie steht es eigentlich um die versuchte Grundgesetz-Änderung von Artikel 3 Absatz 3? Gerade die LGBTQIA-Gemeinde wünscht sich die Erweiterung um den Satz: Niemand darf wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden.

Lehmann: Diese Forderung ist deshalb so wichtig, weil die Homosexuellen und die Transgeschlechtlichen die einzigen Gruppen bilden, die zwar von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, aber noch nicht explizit im Grundgesetzt geschützt sind. Der letzte Versuch, diese Änderung von Artikel 3, Absatz 3 durchzusetzen, scheiterte an der fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Nur: Die Stimmen der Ampel-Koalition reichen auch in dieser Legislatur nicht, wir brauchen die Union dazu.

Sven Lehmann nach dem Interview mit Redakteurin Diana Zinkler.
Sven Lehmann nach dem Interview mit Redakteurin Diana Zinkler. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

2021 haben sich 185 queere Schauspieler und Schauspielerinnen im „SZ Magazin“ geoutet und sich für mehr Repräsentation in Film und Fernsehen stark gemacht. Was können Sie für die Schauspieler tun?

Lehmann: Viele von ihnen kritisierten, dass sie nur als Schwule oder Lesben besetzt würden – dabei können sie als Schauspielende natürlich alle Rollen spielen. Das Manifest zeigt, dass es selbst im künstlerischen Bereich viele Vorurteile gibt. Ich will mit meiner Arbeit helfen, die Vorurteile abzubauen, die Menschen durch bestimmte Zuweisungen einschränken.

Da müssen Sie sich doch gefreut haben, dass der offen schwule Schauspieler Jannik Schümann gerade in der Sisi-Neuverfilmung einen sehr heterosexuellen Kaiser Franz gespielt hat.

Lehmann: Da habe ich mich sehr drüber gefreut! Ich habe die Sissi-Neuverfilmung auch gesehen – gern mehr davon!

Eines Ihrer Ziele ist es, lesbische Ehen rechtlich besserzustellen. Es soll eine automatische Anerkennung der zweiten Mutter erfolgen, ohne dass sie wie bisher das Kind adoptieren muss. Warum?

Lehmann: Wenn ein Kind in eine Ehe mit Vater und Mutter hineingeboren wird, hat es automatisch zwei Eltern. Wird es in eine Ehe von zwei Frauen geboren, hat es nach bisheriger Gesetzeslage nur einen Elternteil. Das wollen wir ändern, um die Ehen gleichzustellen, aber auch, um die Situation der Kinder abzusichern. Denn wenn heute der leiblichen Mutter etwas passiert, ist das Kind quasi Waise.

Wenn beide Mütter dann die Eltern sind, verliert dann der Vater des Kindes die Rechte an dem Kind?

Lehmann: Bisher ist das nach einer Adoption so. Wir wollen das Familienrecht aber weiter modernisieren. Es sollen sich künftig mehr als zwei Elternteile das Sorgerecht für ein Kind teilen können. Ein Kind soll bis zu vier Sorgeberechtigte haben dürfen, denn mittlerweile wächst jedes dritte Kind in einer Familiensituation auf, die nicht einer klassischen Ehe entspricht.

Familie ist so bunt wie das Leben und wir wollen diese Familienkonstellationen besser schützen und dafür sorgen, dass sie rechtlich anerkannt werden. Davon profitieren Regenbogen-, aber auch Patchworkfamilien.

Wie kann das praktisch funktionieren?

Lehmann: Das sogenannte kleine Sorgerecht soll auf bis zu vier Elternteile ausgedehnt werden können. Ein Beispiel: Mutter und Mutter trennen sich, beide haben neue Partner. Die beiden neuen Partner sollen dann das kleine Sorgerecht bekommen können, wenn sie möchten.

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Viele homosexuelle Paare suchen sich Leihmütter, in den Ländern, wo es erlaubt ist. Wie stehen Sie dazu?

Lehmann: Kommerzielle Leihmutterschaft ist bisher in Deutschland verboten. Ich weiß, dass es für viele homosexuelle Männer eine Möglichkeit ist, zu einem Kind zu kommen. Aber ich finde, Leihmutterschaft ist eine frauenpolitische Frage, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihren eigenen Körper berührt, da habe ich als Mann kein Mitspracherecht.

In Australien hat sich mit Josh Cavallo der erste aktive Fußballprofi als schwul geoutet, allerdings musste er schlimme homophobe Äußerungen ertragen.

Lehmann: Ich fand sein Outing unglaublich mutig. Dieser Fall zeigt aber auch, dass viele Fußballer zurecht immer noch Angst vor einem Outing haben. Der DFB macht tatsächlich auch einiges für die Akzeptanz. Allerdings wünsche ich mir, dass in Fußballstadien konsequenter gegen homofeindliche Hasskriminalität vorgegangen wird.

Fans, die Spieler beleidigen, müssen aus den Stadien entfernt werden – und ein Stadionverbot bekommen können. Dafür brauchen wir mehr Konsequenz. Deshalb ist es auch Teil unseres geplanten Aktionsplanes, dass die Polizei Hasskriminalität gegen Homosexuelle oder trans Menschen gesondert erfasst.

Wie lange wird es noch dauern, bis sich in Deutschland der erste aktive Fußballprofi outet?

Lehmann: Ich warte täglich darauf, dass sich ein aktiver deutscher Fußballprofi aus der ersten Liga outet. Allerdings nimmt diese eine Person eine große Last auf sich. Deswegen wäre es aus meiner Sicht besser, wenn sich mehrere Fußballer für ihr Coming-out zusammentun.