Moskau. Die Außenministerin bekennt sich zur historischen Verantwortung Deutschlands, redet aber gleichzeitig Klartext beim Thema Ukraine.

Am späten Dienstagvormittag fährt Annalena Baerbock zum schneebedeckten Alexandergarten, der an der Westmauer des Kreml liegt. Dort befindet sich das Grabmal des unbekannten Soldaten. Eine Gedenkstätte nicht nur für die Gefallenen, sondern für die insgesamt 27 Millionen Russen, die im Zweiten Weltkrieg getötet wurden. In der Mitte der etwas erhöhten, mit polierten roten Granitplatten ausgelegten Plattform brennt ein Ewiges Feuer.

Langsam schreitet die Außenministerin hinter drei russischen Soldaten, die einen Blumenkranz mit deutscher Flagge tragen. Über Lautsprecherboxen ertönt das 2. Klavierkonzert von Rachmaninow. Baerbock zupft das Gebinde zurecht. Danach tritt sie ein paar Schritte zurück und schaut schweigend auf den Blumenkranz. Sie wirkt bewegt.

Die Ministerin hat diesen Termin bewusst gewählt. Im Eingangsstatement vor dem Gespräch mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow betont sie die „historische Tiefe“ und den „historischen Schmerz“, die die beiden Länder verbinden. Sie spricht von „Versöhnung“ und vom „Auftrag für die Politik der Gegenwart und für zukünftige Generationen“.

Verfolgen Sie hier alle aktuellen Nachrichten zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.

Versöhnliche Worte und Kritik: Baerbock trifft Lawrow

In der Pressekonferenz mit Lawrow kommt Baerbock erneut auf das Thema. Der Besuch am russischen Grabmal habe sie mit „Scham“ und „Ehrfurcht“ erfüllt. „Das Leid und die Zerstörung, die wir über die Völker der Sowjetunion gebracht haben, lassen sich durch nichts aufwiegen“, sagt sie. Es sind versöhnliche Worte, der Versuch eines Brückenschlags zu Lawrow, den sie mit „lieber Kollege“ anredet.

Außenministerin Annalena Baerbock legt am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz nieder.
Außenministerin Annalena Baerbock legt am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz nieder. © dpa | Jörg Blank

Baerbock unterstreicht, wie wichtig ihr die deutsch-russischen Beziehungen für Handel und Wissenschaft sind. Sie spricht klar, versucht, dem Austausch eine positive Grundierung zu geben. Gleichzeitig pocht sie auf die Einhaltung von gemeinsamen Regeln in Europa, wie sie etwa in der Schlussakte von Helsinki oder in der UN-Charta niedergelegt worden seien. Deutschland werde die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung verteidigen, „auch wenn dies einen hohen wirtschaftlichen Preis hat“.

Die Ministerin kritisiert die Konzentration von rund 100.000 russischen Soldaten nahe der ukrainischen Grenze. „Es ist schwer, das nicht als Drohung zu sehen“, meint sie. Einen möglichen Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2 stellt sie mit einer Deutlichkeit in den Raum, wie sie das bisher nicht gemacht hat. „Wenn Energie als Waffe eingesetzt wird, hätte das Auswirkungen auf diese Pipeline“, sagt sie. Lesen Sie hier: Nord Stream 2: Nutzt Russland die Gaspipeline zur Spionage?

Soldaten an ukrainischer Grenze „keine Drohung“

Lawrow gibt sich für seine Verhältnisse erstaunlich zahm. Im Februar 2021 hatte er den EU-Außenminister Josep Borrell vor den Kameras der Weltpresse abgekanzelt und während des Gesprächs mit ihm klammheimlich drei EU-Diplomaten ausgewiesen – eine Demütigung. Auch Außenmister Sigmar Gabriel hatte bei seinem Antrittsbesuch in Moskau im März 2017 Bekanntschaft mit der rhetorischen Dampfwalze Lawrow gemacht.

Doch am Dienstag redet der Russe ruhig und ohne polemische Spitzen. Er preist das wachsende Handelsvolumen zwischen beiden Ländern und verweist auf gemeinsame Interessen im Atomstreit mit dem Iran und in Afghanistan. Baerbocks Sorge wegen der russischen Truppenkonzentration bügelt er ab: „Die Streitkräfte stehen auf unserem Territorium: Das ist keine Drohung.“

Mit Blick auf die Normandie-Gespräche zur Lösung des Ukraine-Konflikts zeigt sich Lawrow skeptisch. „Kiew sabotiert und hält seine Verpflichtungen nicht ein“, blafft er. Für Moskau sei die Gewährung eines regionalen Autonomiestatuts für die prorussischen Rebellen im Donbass sehr wichtig. „Wir hoffen, dass Deutschland auf die Ukraine einwirkt“, mahnt er. Baerbock steht daneben, ohne mit der Wimper zu zucken. Lesen Sie hier: Kommentar: Baerbock und der Dialog alleine reichen nicht

Kunst, Demokratie, Freiheit – und eine Botschaft der Außenministerin

Der Tag beginnt mit einem Kontrastprogramm zwischen all den schwierigen Gesprächen über Kriegsgefahr, Ukraine-Konflikt und Sanktionsdrohungen gegen Moskau. Die deutsche Außenministerin besucht die Tretjakow-Galerie, wo die Wanderausstellung „Diversity United“ („Vielfalt vereint“) gezeigt wird.

Diese befindet sich in einem massiven Gebäude im Stile des sowjetischen Modernismus. Die Wände in der Empfangshalle sind grau, an der Wand hängen quadratische Glasformationen, die an den Palast der Republik in der DDR erinnern. Baerbock kommt in aufgeräumter Stimmung, lässt sich von einer Englisch sprechenden Russin die Ausstellung erklären. Sie antwortet auf Englisch, deutet auf die Kunstwerke, fragt interessiert nach.

Die rund 300 Exponate stammen von 90 Künstlerinnen und Künstlern aus 34 europäischen Ländern und behandeln die Themen Demokratie, Migration, Umwelt und Gleichberechtigung. Eine ungewöhnliche Mischung für das Russland der heutigen Tage. Umso erstaunlicher ist es, dass Präsident Wladimir Putin der Schirmherr ist.

Baerbock beim Besuch einer Ausstellung zu Vielfalt und Demokratie.
Baerbock beim Besuch einer Ausstellung zu Vielfalt und Demokratie. © dpa | Jörg Blank

Besonders angetan hat es Baerbock das Werk „Memorial“ des spanischen Künstlers Fernando Sánchez Castillo. Der ließ ein Schwarz-Weiß-Foto mit deutschen Nazis aus dem Jahr 1936 aufhängen. Alle zeigen den Hitlergruß, nur einer verschränkt in stillem Protest die Arme.

Von diesem Mann hat Castillo 5000 kleine Skulpturen angefertigt, die die Besucher mitnehmen können. Sie müssen aber auf einem Zettel dem Künstler kurz mitteilen, was für sie Demokratie und Freiheit bedeuten. Baerbock schnappt sich eine Figur, schreibt drei Zeilen auf ein gelbes Stück Papier und wirft es in einen Glaskasten.

Baerbock trifft Vertreterin der aufgelösten Menschenrechtsorganisation Memorial

Während der Gast aus Deutschland in der Tretjakow-Galerie Kunst anschaut, verstärkt Russland seine militärischen Aktivitäten. Inmitten wachsender Sorgen vor einem Angriff Russlands auf die Ukraine verlegt Moskau Truppen nach Belarus. Die Streitkräfte sollen nach Angaben der Minsker Regierung gemeinsame Manöver mit den eigenen Truppen starten. Als Termin wurde der Februar genannt. Hintergrund: Weißes Haus: Russland könnte Ukraine „jederzeit“ angreifen

Die Übung „Alliierte Entschlossenheit“ werde im Westen an der Grenze der Nato-Mitglieder Polen und Litauen vollzogen, im Süden an der Grenze zur Ukraine. Das kündigte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko an. Ziel sei es, „einen genauen Plan für den Fall einer Konfrontation mit Kräften aus dem Westen zu entwickeln“.

In Moskau spielt Baerbock auf verschiedenen Bühnen. Wie sich Deutschland gegenüber der nuklearen Weltmacht Russland positioniert, ist eine der Leitfragen für die Reise.

Es ist eine Feuerprobe – und der erste Testfall für ihr Motto „Dialog und Härte“ im Umgang mit autoritären Regimen. Vor dem Abflug am späten Abend trifft Baerbock Vertreter der russischen Zivilgesellschaft in der Residenz des deutschen Botschafters. Darunter ist eine Repräsentantin der kürzlich von der Regierung aufgelösten Menschenrechtsorganisation Memorial. Auch ein Signal an den Kreml.

Mehr zum Thema: Ukraine-Konflikt erklärt: „Die Alarmglocken sind schon an“