Berlin. Die SPD-Delegierten haben auf ihrem Parteitag dem Koalitionsvertrag zugestimmt. Nun stehen noch die Zusagen von Grünen und FDP aus.

Geht es nach den Sozialdemokraten, steht Deutschland an der Schwelle einer historischen Zeitenwende. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sieht nicht weniger als ein "Jahrzehnt der Sozialdemokratie" heraufziehen. "Mit der Ampel schreiben wir Geschichte", ist sich Esken sicher. Der designierte SPD-Kanzler Olaf Scholz vergleicht die Lage mit dem Jahr 1969, als die SPD erstmals nach jahrelanger Unionsherrschaft den Bundeskanzler stellte. Auch jetzt sei ein "ganz besonderer Aufbruch" für das Land möglich, sagt Scholz, als er am Samstag auf dem SPD-Parteitag in Berlin um die Zustimmung für den Koalitionsvertrag mit FDP und Grünen wirbt.

In den Jahren der großen Koalition war die Zustimmung der SPD zu den Koalitionsverträgen mit viel Streit und heftigen Diskussionen verbunden. Doch dieses Mal ist alles anders, wie auch der Auftritt von Kevin Kühnert zeigt. Der Parteivize und frühere Juso-Chef soll auf einem weiteren Parteitag am kommenden Samstag als Nachfolger von Lars Klingbeil zum neuen SPD-Generalsekretär gewählt werden. In den vergangenen Jahren mischte der 32-jährige Berliner so manchen Parteitag auf, wenn er ans Rednerpult trat.

Kühnert: "Das fühlt sich gut an heute"

Zwar bemängelt Kühnert nun, dass es bei der Stärkung von Mietern so manche Zugeständnisse an die FDP gegeben habe, "die hätte es für uns nicht gebraucht". Aber auch bei dem einstigen Unruhefaktor Kühnert überwiegt die Freude, seine Partei in nur wenigen Tagen als stärkste Kraft an der Spitze einer Bundesregierung zu sehen: "Das fühlt sich gut an heute", sagt Kühnert. Nach vielen Jahren voller Demütigungen, Zweifeln und Spötterei werde die Arbeit der SPD in der kommenden Woche endlich belohnt.

Am Montag will Scholz die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister seines Kabinetts vorstellen. Einen Tag später ist die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags geplant, am Mittwoch steht schließlich die Kanzlerwahl an. Dann hat der 63-Jährige sein Ziel erreicht, Angela Merkel im Kanzleramt zu beerben. Doch Scholz ist klar, dass die Arbeit dann erst richtig losgeht – und dass die Erwartungen an das neue Regierungsbündnis etwa im Kampf gegen Corona, in der Klimapolitik oder bei der von den Ampel-Parteien versprochenen grundlegenden Modernisierung des Landes riesengroß sind.

Mehrere Rednerinnen und Redner kritisieren auf dem Parteitag die Unionsparteien als Bremser, die der SPD in den vergangenen Jahren ein vernünftiges Regieren in der großen Koalition unmöglich gemacht hätten. "Wir können jetzt beweisen, dass wir Bremsen lösen können", erklärt der scheidende Parteichef Norbert Walter-Borjans selbstbewusst. Gemeinsam mit FDP und Grünen soll alles anders werden, Scholz beschwört den Fortschritt, den das Bündnis anstoßen werde. "Wir haben Bock auf diese Regierung", lässt Klingbeil seiner Vorfreude freien Lauf. Der designierte Nachfolger von Walter-Borjans an der SPD-Spitze spricht vielen Sozialdemokraten aus dem Herzen: Endlich wieder Kanzlerpartei.

Die Stimmung ist super im Willy-Brandt-Haus

Bereits als die Sozialdemokraten am Samstagvormittag kurz vor Beginn der Beratungen im Atrium der Parteizentrale in Berlin in kleinen Gruppen beisammenstehen und plaudern, ist die Stimmung super, obwohl dieser für sie historische Parteitag unter Pandemiebedingungen stattfinden muss. Die meisten Delegierten verfolgen den Parteitag aus der Ferne und stimmen digital ab. "Außerordentlicher SPD-Bundesparteitag in‘t Köken", twittert etwa der ostfriesische Bundestagsabgeordnete Johann Saathoff aus seiner Küche. "Dat word wat!"

Im Willy-Brandt-Haus stehen nur ein paar Stuhlreihen, vor Ort sind lediglich die SPD-Parteispitze sowie ein paar Dutzend weitere Sozialdemokraten. Alle mindestens doppelt geimpft, genesen und zusätzlich frisch getestet. Dass das Coronavirus derzeit bundesweit außer Rand und Band scheint, ist eine schwere Hypothek für den Start der neuen Ampelkoalition. Doch davon lassen sich die Sozialdemokraten an diesem Tag nicht die Laune verderben. "Wir gucken in die freudigen Gesichter einer kleinen Schar", sagt Walter-Borjans auf der Bühne. "Wir strahlen unter unseren Masken", versichert die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig.

Bei all der Euphorie darüber, dass mit Scholz künftig einer der ihren die Regierung führt, bemüht sich der künftige Kanzler auf dem Parteitag bereits behutsam darum, die Genossen auf kommende Enttäuschungen vorzubereiten. "Wenn es um einen Aufbruch in diesem Jahrzehnt geht, dann geht es um einen Aufbruch, der nicht in vier Jahren getan ist", bittet Scholz die Parteifreunde um Geduld. Viele der Ampel-Vorhaben könnten erst in Monaten oder gar Jahren ihre Wirkung zeigen. "Manche Dinge dauern ganz schön lange."

Verhaltene Kritik am Koalitionsvertrag

In der Aussprache hält sich die Kritik an dem Koalitionsvertrag mit Grünen und FDP in Grenzen. Mehrere Rednerinnen und Redner mahnen jedoch, in der Ampel-Koalition weiterhin für sozialdemokratische Inhalte zu kämpfen. Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal fordert, beim Thema Umverteilung müsse in der Regierung noch "einiges mehr" herauskommen. Sie kündigt an, der Parteinachwuchs werde die Arbeit der Koalition "solidarisch und kritisch" begleiten. Ihr Vorgänger Kevin Kühnert ruft seine Partei auf, "hungrig zu bleiben". Die SPD müsse in den nächsten Jahren auch Dinge durchsetzen, die noch nicht in dem Koalitionsvertrag vereinbart sind.

Am Ende steht eine Zustimmung von 98,8 Prozent zum Koalitionsvertrag. Die FDP stimmt am Sonntag auf einem Parteitag über das fast 180-seitige Vertragswerk ab, das Ergebnis der Mitgliederbefragung der Grünen soll am Montag vorliegen. Mit der Zustimmung der beiden Ampelpartner ist fest zu rechnen. So bleibt bei der SPD am Samstag zunächst nur offen, wer außer Scholz für die Sozialdemokraten im Kabinett sitzen soll. Doch darüber schweigen die neuerdings so geeinten Genossen eisern.