Berlin. Politologe Markus Kaim fordert eine „couragierte“ deutsche Initiative zur Beendigung des Ukraine-Kriegs. Putin brauche einen Ausweg.

Militärisch ist die Ukraine derzeit auf dem Vormarsch, Russlands Staatschef Wladimir Putin ruft durch die Teilmobilmachung hunderttausende Männer an die Waffen. Auf den Anschlag auf die Krim-Brücke reagiert Russland mit Raketenangriffen auf die Ukraine. Gleichzeitig droht der Herrscher im Kreml immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen. Welche Wendung nimmt der Krieg?

Und welche Rolle könnte Deutschland auf dem Weg zu einem Frieden spielen? Der Sicherheitspolitik-Experte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin analysiert im Interview die Lage.

Die ukrainische Armee erobert derzeit von Russland besetztes Gebiet zurück. Dreht sich militärisch das Blatt?

Markus Kaim: Wir beobachten das seit etwa vier Wochen. Die ukrainische Strategie besteht darin, die Versorgungslinien der ausgestreckten russischen Streitkräfte im Hinterland zu zerstören, und dann vorne die gegnerischen Truppen zurückzudrängen. Das zahlt sich aus. Zu den Erfolgen haben die Waffenlieferungen des Westens einen wichtigen Beitrag geleistet. Wir sehen derzeit keine Hinweise, dass diese Dynamik bald gebrochen werden könnte. Diese Erfolge der Ukrainer bedeuten aber nicht, dass Russland jetzt militärisch in die Knie gezwungen wird.

Welche Bedeutung - militärisch und symbolisch - hat der Anschlag auf die Brücke von Kertsch? Wer könnte hinter der Tat stecken?

Kaim: Die Brücke ist von doppelter Bedeutung: Sie ist wichtig für die Versorgung der russischen Truppen in der Ukraine. Sie ist aber noch wichtiger als Symbol der russischen Annexion der Krim. Sollte es sich tatsächlich um einen Anschlag handeln, kommt eigentlich nur die Ukraine in Frage.

Flammen und Rauch steigen von der Krim-Brücke auf, die das russische Festland und die Halbinsel Krim über die Straße von Kertsch verbindet.
Flammen und Rauch steigen von der Krim-Brücke auf, die das russische Festland und die Halbinsel Krim über die Straße von Kertsch verbindet. © dpa | Uncredited

Welche Rolle wird die russische Teilmobilmachung für den weiteren Verlauf des Konflikts spielen?

Kaim: Die nun 300.000 eingezogenen Männer sollen Berichten zufolge eine zweiwöchige Schnellausbildung bekommen und dann an die Front geworfen werden. Wenn das so stimmt, kann ich nur sagen: Gott sei mit denen. Diese Soldaten werden auf motivierte und gut ausgerüstete ukrainische Streitkräfte stoßen, die derzeit im Vormarsch sind. Ich sehe nicht, wie diese schnell aufgestellten Truppen militärisch einen Unterschied machen sollen. Sie werden als Kanonenfutter verheizt.

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Putin spielt mit der nuklearen Drohung. Halten Sie einen Einsatz von Atomwaffen für denkbar?

Kaim: Das ist die große Frage seit Kriegsbeginn: Was passiert in Putins Kopf? Ich finde den Einsatz von Atomwaffen nicht plausibel. Denn trotz seiner Drohungen hat Putin bisher etwa auf die Waffenlieferungen von Nato-Staaten an die Ukraine nicht reagiert. Zudem lehnen auch China und Indien, die beide in weltpolitischen Ordnungsfragen Russland nahestehen, den Einsatz von Atomwaffen ab. Putin liefe also Gefahr, endgültig zum Paria zu werden. Er ist aber darauf angewiesen, dass China und Indien die internationalen Sanktionen gegen Russland nicht mittragen. Und schließlich wäre der militärische Nutzen durch den Einsatz taktischer Atomwaffen gering.

Feuerwehrleute löschen nach einem russischen Angriff ein Gebäude in der Ukraine.
Feuerwehrleute löschen nach einem russischen Angriff ein Gebäude in der Ukraine. © AFP | MARINA MOISEYENKO

Gerätselt wird, wer hinter der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines steckt. Viele sehen Putin als den Schuldigen. Aber hätte er nicht damit die Möglichkeit aus der Hand gegeben, durch ein ständiges An- und Abstellen des Gases, in Europa immer wieder für Verunsicherung zu sorgen?

Kaim: Deswegen bin ich skeptisch, ob Putin dahintersteckt. Sein strategisches Ziel der letzten Jahre ist es gewesen, Europa in energiepolitischer Abhängigkeit zu halten. Um weiterhin Einfluss auf den politischen Prozess in Europa zu nehmen, muss er sagen können: An uns scheitert es nicht, wir könnten Gas liefern. Damit würde er den politischen Rändern hierzulande Futter geben, die Scholz, Baerbock oder Lindner als die Schuldigen der Energiekrise sehen. Mit dieser Taktik könnte Putin den politischen Dissens bei uns befeuern. Das geht nach der Sabotage der Pipelines nicht mehr. Also leuchtet mir eine Täterschaft Russlands nicht ein.

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Also: cui bono – wem nutzt es?

Kaim: Es gibt auch das Argument, die USA seien verantwortlich, um uns ihr Frackinggas zu verkaufen und Russland als Gaslieferant endgültig zu verdrängen. Aber darauf bewegt es sich doch sowieso zu. Dafür braucht es doch nicht mehr einen solchen Sabotageakt. Kurz: Ich weiß es nicht.

Welche Bedeutung hat heutzutage noch ein Wintereinbruch für das Kriegsgeschehen?

Kaim: Wir haben in den letzten Jahren immer darüber diskutiert, dass es keine alten Kriege mehr gibt, sondern nur noch neue Kriege: Cyberwar, Handelskriege, Informationskriege, Krieg im Weltraum. Und dann wurden wir am 24. Februar wach mit einem Krieg, der aussieht wie die Schlacht um Stalingrad. Wir reden über Panzer, Artilleriegeschütze, Haubitzen. Das sind alles Waffen der alten Kriege. Insofern spielt die Wetterlage zwar keine entscheidende Rolle, könnte aber eine Variable bei militärischen Überlegungen sein.

Russlands Präsident Wladimir Putin steht innenpolitisch unter Druck.
Russlands Präsident Wladimir Putin steht innenpolitisch unter Druck. © AFP | Gavriil Grigorov

Wie sehr steht Putin innenpolitisch unter Druck?

Kaim: Die Teilmobilisierung hat gezeigt, dass er sehr unter Druck steht. Damit hat Putin den Krieg in alle russischen Haushalte getragen. Er hat damit seine eigene Erzählung von der begrenzten und gut laufenden „Spezialoperation“ in der Ukraine widerlegt. Ob der Krieg gewonnen wird oder verloren geht, hat für Putin persönlich fundamentale Auswirkungen. Sein System scheint aber bisher relativ stabil zu sein. Eine gesellschaftliche Opposition, die seine Macht ins Wanken bringt, gibt es nicht. Und auch eine Opposition aus dem Militär heraus beobachten wir nicht.

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Also ist ein Ende des Krieges nicht absehbar?

Kaim: Ein Krieg endet entweder, wenn eine Seite die militärische Oberhand gewinnt. Danach sieht es im Moment nicht aus trotz der aktuellen Dynamik zu Gunsten der Ukraine. Oder ein Krieg endet, wenn beide Seiten einander militärisch ermüden. Das ist derzeit ebenfalls nicht der Fall. Mit ihren aktuellen militärischen Erfolgen hat die Ukraine auch keinen Anlass, mit Putin zu verhandeln.

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Verhandlungen scheinen derzeit nicht möglich, den Einsatz von Atomwaffen halten Sie für unwahrscheinlich, militärisch ist Putin in der Defensive. Welche Optionen bleiben ihm?

Kaim: Im Moment geht die westliche Taktik auf, die Kosten für Putin militärisch, wirtschaftlich und politisch immer weiter zu erhöhen. Die Frage nach Putins Optionen wird sich in zwei, drei Monaten noch stärker stellen, wenn tausende der neu eingezogenen Soldaten gestorben sind. Eine kluge Strategie wäre, ihm einen diplomatischen Ausweg zu bieten. Deutschland sollte dafür eine couragierte Initiative mit den USA und anderen europäischen Ländern ergreifen. In der Bundesregierung wird zuletzt immer wieder von einer Führungsrolle gesprochen, die Deutschland einnehmen solle. Das wäre eine Chance, sie zu ergreifen.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) während eines Besuchs in der Ukraine im Juni.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) während eines Besuchs in der Ukraine im Juni. © dpa | Kay Nietfeld

Ist Deutschland dazu bereit?

Kaim: Dafür muss die Bundesregierung Antworten auf die offenen Fragen der deutschen Russlandpolitik geben: Muss die Krim für einen Frieden zurück an die Ukraine gehen? Welche Sicherheitsgarantien wollen wir der Ukraine geben? Wie steht die Bundesregierung zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine? Im Moment verschafft der andauernde Krieg der Bundesregierung noch die Zeit, zu all diesen Fragen nicht konkret Stellung beziehen zu müssen.

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