Berlin. Wie kann man Indizien und Beweise gegen die Urheber der Kriegsgräuel von Butscha zusammentragen und ihnen am Ende den Prozess machen?

Der Tatort wird aus verschiedenen Perspektiven abgebildet. Rechts oben auf der Webseite der „New York Times“ steht ein Satellitenfoto, das am 19. März über der ukrainischen Stadt Butscha aufgenommen wurde. Es zeigt eine Straße in dem Ort, den seit dem vergangenen Wochenende die ganze Welt kennt. Weiße Kästchen markieren die Stellen, an denen Leichen liegen. Die Aufnahme stammen vom US-Unternehmen Maxar Technologies.

Links neben dem Satellitenfoto sind Videos des ukrainischen Verteidigungsministeriums vom 1. April zu sehen. Sie zoomen die im Satellitenfoto gekennzeichneten Stellen ganz nah heran. Die Kamera filmt einen leblosen Körper nach dem anderen. Für die „New York Times“ ist der Fall klar: Videos und Satellitenbilder widerlegen die Moskauer Behauptung, dass Leichen getöteter Zivilisten dort erst nach dem Abzug des russischen Militärs platziert worden seien.

Satellitenaufnahmen, die bereits am 19. März aufgenommen wurden, sollen die Kriegsverbrechen in Butscha beweisen. Weiße Kästchen markieren die Stellen, an denen die Leichen getöteter Zivilisten liegen.
Satellitenaufnahmen, die bereits am 19. März aufgenommen wurden, sollen die Kriegsverbrechen in Butscha beweisen. Weiße Kästchen markieren die Stellen, an denen die Leichen getöteter Zivilisten liegen. © FMG/AFP | FMG/AFP

Beweise für die Unschuld der eigenen Streitkräfte lieferte die russische Regierung nicht. Für die meisten westlichen Regierungen ist der Fall klar. Aber wie kann man Indizien und Beweise gegen die Urheber der Kriegsgräuel in der Ukraine zusammentragen – und ihnen am Ende den Prozess machen?

Den Haag sammelt bereits Beweismaterial

Es ist eine Mammutaufgabe, bei der verschiedene Länder und Institutionen aktiv werden. So will die EU Ermittlerteams in die Ukraine schicken. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sammelt bereits Material wegen des Verdachts auf russische Kriegsverbrechen. Darüber hinaus haben verschiedene Länder Untersuchungen gestartet. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft arbeitet ebenfalls auf Hochtouren.

Generell laufen die Ermittlungen in drei Richtungen: Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Völkermord ist nach dem Völkerstrafrecht durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Beispiele für Kriegsverbrechen sind etwa die gezielte Tötung von Zivilisten, die Zerstörung von Wasser- und Elektrizitätswerken, das Aushungern der Zivilbevölkerung, die Behinderung humanitärer Hilfe oder Flächenbombardements. „Die gezielte Bombardierung von Wohnsiedlungen ist schon ein Kriegsverbrechen. Das Benutzen von international geächteten Waffen wie Streubombenmunition ist ebenfalls ein Kriegsverbrechen“, sagte Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, unserer Redaktion.

Die 57-jährige Tanya Nedashkivs'ka trauert um ihren Mann, der in Butscha am Stadtrand von Kiew getötet wurde. Angesichts der schockierenden Gräueltaten in der ukrainischen Stadt Butscha bereitet der Westen schärfere Sanktionen gegen Russland vor.
Die 57-jährige Tanya Nedashkivs'ka trauert um ihren Mann, der in Butscha am Stadtrand von Kiew getötet wurde. Angesichts der schockierenden Gräueltaten in der ukrainischen Stadt Butscha bereitet der Westen schärfere Sanktionen gegen Russland vor. © Rodrigo Abd/AP/dpa

Kriegsverbrechen-Ermittlungen laufen ähnlich wie bei einem Mordfall

Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, dem ein Angriff gegen die Zivilbevölkerung zugrunde liegt. „Zum Beispiel wenn Truppen der Besatzer die Zivilbevölkerung leiden lassen“, betont Michalski. „Wenn man die Menschen hungern lässt, einsperrt, foltert oder vergewaltigt, sind das Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Auch Human Rights Watch hat derzeit Ermittler in der Ukraine und in den Nachbarländern. Unter den Experten befinden sich Juristen, Frauenrechtsexperten oder Datenforensiker. Darüber hinaus arbeitet die Organisation mit Gerichtsmedizinern vor Ort zusammen.

Leugnen das Massaker in Butscha: Russlands Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Leugnen das Massaker in Butscha: Russlands Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu. © picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin/A | Mikhail Klimentyev

Die Ermittlungen im Fall von Kriegsverbrechen laufen ähnlich wie bei einem Mordfall. „Wir sammeln Aussagen von möglichst allen Beteiligten – von Tätern, Opfern, Augenzeugen. Dazu gehören zum Beispiel auch Selfies oder in Social-Media-Kanälen verbreitete Videos von Tätern, die mit ihren Taten angeben wollen. Oder Aussagen von Tätern, die die Beteiligung an bestimmten Taten belegen“, unterstreicht Michalski. „Wenn die Satellitenbilder mit den Schilderungen der Augenzeugen übereinstimmen, ist die Beweiskraft noch größer“, so Michalski. Generell gelte: „Da, wo sich Aussagen und Fakten überschneiden – wo es ein Match gibt –, können wir davon ausgehen, dass die Indizien stimmen.“

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Kriegsverbrechen: Beweisfotos und -Videos sind besonders wichtig

Vor allem die sogenannte digitale Forensik ist dabei entscheidend. Denn wenn Soldaten Bluttaten an Zivilisten begehen, sind aufwendige Ermittlungen durch Rechtsmediziner kaum möglich. Doch digitale Beweise wie Videos und Fotos von Anwohnern wie Satellitenbilder – all das entsteht oftmals während der Kriegshandlungen. IT-Forensiker ordnen diesen Datensätzen dann Zeit und Ort zu. So werden später aus Fotos Beweise vor Gericht.

Die Suche nach Beweisen ist längst nicht mehr nur in den Händen von Staatsanwälten und Rechtsmedizinern. Es sind Menschen in aller Welt, die Fotos, Videos und Satellitenbilder sammeln und teilen – oftmals versuchen Personen und Gruppen mit Kenntnissen in digitaler Forensik, etwa Datum und Ort eines Fotos zu identifizieren. Vor allem der Messengerdienst Telegram, aber auch andere soziale Netzwerke sind zu einem Archiv für Gräueltaten und mutmaßliche Kriegsverbrechen geworden.

Der Generalbundesanwalt in Deutschland hat bereits seit einigen Wochen Ermittlungen aufgenommen, ein sogenanntes Strukturverfahren richtet sich gegen „unbekannt“. Hintergrund waren bereits Anfang März Berichte über den Beschuss von Wohngebieten und den Einsatz von verbotener Streumunition durch russische Streitkräfte.

Butscha: Es kann Jahre dauern, bis es zum Prozess kommt

Dabei könnten auch ukrainische Flüchtlinge in Deutschland bei den Ermittlungen zen­tral sein – etwa als Augenzeugen. Das haben schon die Verfahren deutscher Strafverfolger gegen Kriegsverbrecher in Syrien gezeigt, die nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip verurteilt wurden.

Bis es zum Prozess kommt, kann es allerdings Jahre dauern. Er kann vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg oder vor nationalen Gerichten in einzelnen Ländern verhandelt werden.

Besonders heikel ist der Nachweis von systematischen Kriegsverbrechen. „Wenn man in die Befehlskette oder in die Kette der Täter hineinschauen möchte, ist es wichtig, zu analysieren und Informationen darüber zu sammeln, welche Einheit wo ist“, sagt Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. „Man braucht eine Indizienkette des gesamten Militärapparats.“

Russlands Präsidenten Wladimir Putin oder andere politische oder militä­rische Spitzen juristisch zur Verantwortung zu ziehen, ist allerdings äußerst heikel, warnen Experten. „Man muss beweisen, dass sie es wussten oder gewusst ­haben könnten oder gewusst haben ­sollten“, sagt der Völkerrechtler Philippe Sands vom University College in London. „Es besteht ein hohes Risiko, dass man nach einem dreijährigen ­Verfahren bei Mitgliedern der mittleren Ebene landet. Aber die Hauptleute, die für diesen Horror verantwortlich ­waren – Putin, Außenminister Sergej Lawrow, die Leiter aus den Geheimdiensten, dem Militär oder dem Finanzwesen, die das unterstützen – kommen davon.“

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen.