Berlin. Warum Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und früherer Merkel-Berater, ein Szenario wie im 1. Weltkrieg fürchtet.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine muss für den russischen Präsidenten Folgen haben, sagt der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Das Treffen findet im Berliner Büro der Sicherheitskonferenz statt. Ein Interview über Waffenlieferungen, Kriegsgründe, Fehleinschätzungen und Wladimir Putin.

Sie waren viele Jahre außenpolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel. Hat die Bundesregierung Wladimir Putin damals völlig falsch eingeschätzt?

Christoph Heusgen: Wir hatten eine realistische Sicht auf Putin. Wir haben nach dem ersten Ukraine-Krieg 2014/15 hart mit ihm verhandelt. Die Kanzlerin hat in Brüssel alles versucht, um Sanktionen durchzusetzen. Damals war es nicht einfach, alle EU-Mitgliedstaaten zu gewinnen. Aber Angela Merkel hat Europa zusammengehalten. Wladimir Putin hatte jedoch in den vergangenen zwei Jahren keine Kontakte mehr zu Vertretern außerhalb seines Dunstkreises. Es gab keine Begegnungen mehr zwischen ihm und der Kanzlerin. Der Präsident hatte nur noch Ja-Sager um sich herum und ist irgendwann seiner eigenen Propaganda zum Opfer gefallen.

Realistische Sicht? Selbst der Bundespräsident sagt, er habe sich damals geirrt …

Heusgen: Es ist nicht alles gut gelaufen. Wir haben 2014 beim Nato-Gipfel in Wales einer Erhöhung des Verteidigungshaushalts um zwei Prozent zugestimmt. Wir haben es dann aber nicht geschafft, das auch umzusetzen. Dann wurde Nord Stream 2 beschlossen – und ja, das muss man im Rückblick sagen, da war das deutsche Handeln nicht konsequent.

Christoph Heusgen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz
Christoph Heusgen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Was sollte Kanzler Scholz konkret tun?

Heusgen: Putin begeht Zivilisationsbruch, er hat alle völkerrechtlichen Verträge von der UN-Charta bis zur KSZE-Grundakte in den Wind geschlagen. Er verletzt internationales Recht. Wir müssen Putins Versuchen, das imperiale Russland wiederherzustellen, Einhalt gebieten. Und das machen wir am besten so früh wie möglich. Deshalb bin ich auch für die Lieferung von schweren Waffen in die Ukraine. Man darf einen Staat, der sich selbst verteidigt, helfen. Das ist durch das Völkerrecht gedeckt.

Bringt uns die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Boden einem Krieg mit Russland näher?

Heusgen: Noch mal: Wir haben hier nach der Charta der Vereinten Nationen einen Fall der Selbstverteidigung. Der angegriffene Staat darf sich unterstützen lassen, das ist kein Casus Belli, das ist Selbstverteidigung und wir helfen der Ukraine dabei.

Russland hat jetzt in Kaliningrad einen Atomangriff simuliert. Ist zu befürchten, dass Atomwaffen eingesetzt werden?

Heusgen: Das, was Russland veranstaltet, ist unverantwortlich. Der Aufbau einer Drohkulisse mit Atomwaffen stellt eine Eskalation dar, die an die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Sie ist Teil einer Einschüchterungskampagne. Putin ist jedes Mittel recht, Schrecken zu verbreiten.

Auch das Zusammenziehen seiner Armee an der Grenze wurde als Drohkulisse gewertet. Am Ende war der Angriff Realität …

Heusgen: Putin weiß inzwischen, dass die Nato eng zusammensteht, dass die Beistandsverpflichtung Gültigkeit hat. Diesen Eindruck hatte er nicht, als er den Befehl zum Einfall in die Ukraine gab. Damals glaubte er noch seiner eigenen Propaganda, er hielt die Ukraine für schwach und er glaubte nicht, dass Europa, die USA und die Staaten, die internationales Recht hochhalten, so eng zusammenstehen würden. Putin hat sich gewaltig getäuscht.

Am 9. Mai feiert Russland den Tag des Sieges. Seine militärischen Ziele hat er nicht erreicht. Wird er zu diesem Anlass die Ausweitung des Krieges erklären?

Heusgen: Putin hat seine Ziele – die Besetzung der ganzen Ukraine – nicht erreicht. Das kann er auch nicht. Ich habe für den 9. Mai ein Fünkchen Hoffnung. Putin hat die absolute Informationshoheit in Russland. Er könnte sagen: Im Süden der Ukraine haben wir wichtige Regionen „befreit“, das werden wir jetzt konsolidieren. Leider ist das nicht wahrscheinlich. Ich befürchte, Putin wird weiter versuchen, einen Teilerfolg zu erzielen, weil er von der Gegenwehr noch nicht genügend beeindruckt ist. Er wird versuchen, Odessa zu erobern und eine Verbindung zu Transnistrien zu schaffen. Das darf nicht passieren.

Kann es nach einem Ende des Krieges mit Putin noch Zusammenarbeit geben?

Heusgen: Nein, jegliche Zusammenarbeit mit Putin ist unmöglich. Russlands Präsident hat sich von der zivilisierten Welt verabschiedet. Er hat alle Vereinbarungen, unter denen sein Name steht, gebrochen. Er begeht Kriegsverbrechen. Einige sprechen angesichts der völlig zerstörten Stadt Mariupol schon von Genozid.

Ist es denn nicht ein Genozid, ein Völkermord?

Heusgen: Ich bin bei diesem Begriff vorsichtig. Das sollen Völkerrechtler beurteilen. Aber Putin gehört für die von Russland begangenen Kriegsverbrechen vor ein internationales Gericht.

Wenn Putin kein Verhandlungspartner mehr ist – wer dann?

Heusgen: Das muss Russland für sich selbst entscheiden. Russland muss sehen, wie es sich nach außen darstellt. Ist eine Evolution möglich, ist eine Revolution nötig? Das können wir nicht sagen.

Wie können wir helfen?

Heusgen: Wir sollten Russinnen und Russen, die Zuflucht bei uns suchen, unterstützen. Wir müssen Informationen in das Land bringen. Der Regierung ist es gelungen, durch jahrelange Informationskontrolle und Gleichschaltung der Medien die Bevölkerung zu desinformieren. Das ist erschreckend und zeigt auch uns in Europa, beispielsweise mit Blick auf Ungarn, wie wichtig freie Medien sind.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk nennt den Kanzler eine „beleidigte Leberwurst“. Darf er das vor dem Hintergrund dieses Krieges?

Heusgen: Als Botschafter müssen Sie abwägen, wo Sie auf den Tisch hauen und wo nicht. Die Ukraine und ihr Botschafter stehen unter einem ungeheuren Druck. Er spürt den Krieg in seinem Land mit seiner Familie ganz persönlich. Da lassen sich emotionale Ausbrüche verstehen. Aber man muss gleichzeitig als Botschafter die Interessen seines Landes im Blick haben. Wenn er etwas erreichen möchte, in diesem Fall die Unterstützung der deutschen Bevölkerung, dann kann man aufrütteln. Aber man muss auch erkennen, ob Bürger verprellt werden und man am Ende das Gegenteil erreicht.

Wie könnte dieser Krieg beendet werden?

Heusgen: Diese Frage kann nicht die internationale Gemeinschaft, sondern in erster Linie das angegriffene Volk beantworten. Die ukrainische Regierung muss sagen: Das ist für uns eine Lösung, bei der wir einem Waffenstillstand zustimmen. Die Ukrainer wollen aber keinen Diktatfrieden, sie wollen ihr Land zurück. Deshalb fürchte ich, dass wir auf ein Szenario wie im Ersten Weltkrieg zusteuern. Mit einem Frontverlauf, an dem man sich heftig mit Artillerie beschießt und kämpft. Ich fürchte, der Krieg wird noch dauern.

Wer könnte vermitteln. Etwa Angela Merkel, die große Reputation und Erfahrung hat?

Heusgen: Es ist jetzt die Stunde der Exekutive, also der Regierung. Der Kanzler ist außenpolitisch sehr aktiv – auch wenn man sich manchmal wünschen würde, er würde etwas schneller und früher Entscheidungen treffen. Olaf Scholz kennt Russland. Und seine Rede zur Zeitenwende am 27. Februar war ein Beispiel für Führung, das fand weltweit Anerkennung. Deutsche Führung ist erwünscht, so wie es Angela Merkel und Frankreichs Präsident Hollande 2014 mit den Gesprächen im Normandie-Format gemacht haben, als sie mit Russland und der Ukraine verhandelten.

Wie stabil ist während dieses Krieges die Partnerschaft mit den USA?

Heusgen: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz haben wir einen engen transatlantischen Schulterschluss erlebt. Seit dem russischen Einmarsch zeigen die deutsche und die amerikanische Regierung ein noch nie da gewesenes Maß an Zusammenarbeit. Das hebt sich positiv ab von dem, was wir unter US-Präsident Trump erlebt haben, und wir wollen das weiter ausbauen. In diesen Tagen beginnt unser „Munich Leaders Meeting“ in Washington. Wir bringen dort rund 80 EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen von beiden Seiten des Atlantiks zusammen, um gemeinsam Antworten auf die drängendsten globalen Sicherheitsherausforderungen zu suchen und das transatlantische Bündnis weiter zu stärken. Dabei müssen wir realistisch sein. Es gibt Stimmen aus der republikanischen Partei, die sagen: „Was kümmern wir uns um die Invasion Russlands? Kümmern wir uns doch besser um die Invasion an unserer Grenze zu Mexiko.“ Wir wissen nicht, was nach Joe Biden kommt. Daher dürfen wir nicht vergessen, dass wir unsere Hausaufgaben in Europa dringend machen müssen.

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