Berlin. Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, plädiert dafür, die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine zu erwägen.

Zur Münchner Sicherheitskonferenz vom 18. bis zum 20. Februar kommen außer Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) rund 35 Staats- und Regierungschefs. Es ist das letzte Schaulaufen der Großen und Mächtigen in der Bayern-Metropole, das Wolfgang Ischinger leitet.

Der 75-Jährige sprach über die Frage von Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine, die Kriegsgefahr in Europa und die Motive von Russlands Präsident Wladimir Putin.

Herr Ischinger, wie bewerten Sie den gemeinsamen Auftritt von US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington?

Wolfgang Ischinger: Der Bundeskanzler hat sich in einer außerordentlich schwierigen Lage wacker geschlagen. Er hat das transatlantische Verhältnis nachdrücklich und überzeugend bekräftigt. Das war in der aktuellen Lage wichtig und notwendig. Auch beim Thema der Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 hat der gemeinsame Auftritt mit Präsident Biden trotz Formulierungsunterschieden gezeigt, dass es in dieser für Deutschland sehr schwierigen Frage keinen Streit mit Amerika gibt. Zusammengefasst: Für Olaf Scholz ein Erfolg in Washington.

Deutschland wurde in den USA kritisiert – nicht zuletzt wegen vager Aussagen zu Nord Stream 2. Konnte Scholz die beschädigte Glaubwürdigkeit wiederherstellen?

Ischinger: Deutschland hat – anders als andere europäische Nato-Partner der USA – wegen Nord Stream 2 eine schwere Glaubwürdigkeitshypothek. Die Bundesregierung unter Angela Merkel sah sich genötigt, eine Vereinbarung mit der Biden-Führung zu treffen, damit das transatlantische Verhältnis nicht extrem belastet wird.

Biden hat dafür einen erheblichen innenpolitischen Preis gezahlt. Er wurde nicht nur von der repu­blikanischen Opposition, sondern in seiner eigenen Partei dafür attackiert, dass die vom Kongress beschlossenen Sanktionen gegen Deutschland nicht umgesetzt wurden. Kanzler Scholz konnte diese Verstimmungen in Washington weitestgehend ausräumen.

Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, in seinem Berliner Büro.
Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, in seinem Berliner Büro. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

In Europa hat eine hektische Krisendiplomatie eingesetzt: Der Kanzler reist nach Washington, Außenministerin Baerbock in die Ukraine, Frankreichs Präsident Macron nach Moskau und nach Kiew. Wie bewerten Sie das?

Ischinger: Es hat erhebliche Kritik an der Reiseplanung von Präsident Macron gegeben – bis hin zum Vorwurf, er schlage einen französischen Sonderweg ein. Das halte ich für unfair. Es ist richtig, dass Macron wie bald auch der Bundeskanzler das direkte Gespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sucht.

Kanzlerin Merkel und Präsident Macron hatten im vergangenen Sommer gemeinsam versucht, die EU dazu zu bewegen, einen direkten Dialog auf höchster Ebene mit Russland zu starten. Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten hat das abgelehnt, was ich sehr bedauere. Das hat dazu geführt, dass die EU zunächst mal von der Zuschauertribüne mit ansehen muss, was an intensiver Diplomatie zwischen den USA und Nato einerseits und Russland andererseits stattfindet. Ich finde es aber angemessen, dass Frankreich im Rahmen seiner derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft die Europäische Union mehr zu einem Akteur machen will.

Unternimmt Deutschland genug, um einen Krieg zu verhindern?

Ischinger: In der deutschen Öffentlichkeit gibt es derzeit eine Begriffsverwirrung. Viele denken: Waffenlieferungen sind schon deshalb abzulehnen, weil sie zu einer Eskalation führen könnten. Wenn wir Kriegsverhinderung als das oberste Ziel betrachten, müssen wir in den Köpfen der zivilen Machthaber im Kreml wie auch in den Köpfen des russischen Generalstabs den Eindruck erwecken, dass der Preis für eine Invasion in die Ukraine zu hoch wäre.

Die Drohung mit gewaltigen Wirtschaftssanktionen – wie einige deutsche Politiker argumentieren – reicht nicht. Es ist ganz wichtig, dass zur wirtschaftlichen Abschreckung auch die militärische Abschreckung kommt. Die Lieferung von Defensivwaffen kann zur Abschreckungswirkung und damit zur Kriegsverhütung einen wichtigen Beitrag leisten. Das ist der deutschen Öffentlichkeit noch nicht genug erklärt worden.

Sie sind also dafür, dass Deutschland Defensivwaffen an die Ukraine liefert?

Ischinger: Ich bin jedenfalls dagegen, dass Deutschland aus einem sich herausbildenden westlichen Konsens ausschert. Deutschland darf nicht mit gefalteten Händen am Ende des Konvois stehen. Wir müssen in der Frage der Waffenlieferungen nicht an erster Stelle stehen. Aber wir sollten uns irgendwo in der Mitte einordnen. Sich nur auf die Verschickung von 5000 Schutzhelme zu beschränken, wirft unnötigerweise Fragen nach unserer Solidarität auf. Ich wäre dafür, dass Deutschland noch ein bisschen zulegt.

Der Ukraine-Konflikt

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    Muss Deutschland nicht – wie die USA, Großbritannien oder Frankreich – mehr Bundeswehrsoldaten in östliche Nato-Länder entsenden?

    Ischinger: In diesem Punkt verdient die Bundesregierung ein Lob. Deutschland ist das einzige kontinentaleuropäische Nato-Land, das seit mehreren Jahren eine Battlegroup leitet – nämlich die in Litauen. Das wird der Verantwortung der Bundesrepublik gerecht. In diesen Tagen wird intensiv über eine Verstärkung dieses Kontingents nachgedacht.

    Es gibt eine Menge Dinge, die die Bundesregierung zusätzlich tun könnte, um ihre Mitverantwortung für die Geschlossenheit der Nato zu unterstreichen. Sie könnte bestimmte Waffensysteme wie Drohnen rasch anschaffen. Auch die zügige Entscheidung über ein Nachfolgemodell für die Tornado-Kampfflugzeuge zählt dazu.

    Ist die Ampelkoalition ein verlässlicher Bündnispartner?

    Ischinger: Natürlich ist sie das. Ich habe Verständnis dafür, dass die Dreierkoalition ganz schwer zu managen ist. Wir dürfen nicht vergessen: Sie ist gerade mal zwei Monate im Amt. Da kann man nicht erwarten, dass jedes Schräubchen bereits sitzt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Bundesregierung mittel- und langfristig eine sehr solide Vorstellung abliefern wird.

    Täuscht der Eindruck, dass im Ukraine-Konflikt vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron der Taktgeber ist?

    Ischinger: Als Emmanuel Macron Präsident wurde, war Angela Merkel bereits zwölf Jahre Bundeskanzlerin. Damals gab die Kanzlerin den Ton an. Nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise ergriff Merkel mit der Einleitung der Minsk-Verhandlungen die Initiative. Heute ist die Lage genau umgekehrt. Wir haben einen französischen Präsidenten, der vor seiner möglichen Wiederwahl steht. Er hat allen Grund, innen- und außenpolitisch sehr präsent zu sein. Der Bundeskanzler ist hingegen erst seit wenigen Wochen im Amt. Aber: Die deutsch-französische Zusammenarbeit bleibt essenziell für die Handlungsfähigkeit der EU.

    Macron und seine konservative Konkurrentin Valérie Pécresse plädieren für eine Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato. Was halten Sie davon?

    Ischinger: Darüber reden wir schon seit Jahrzehnten. Nach der Katastrophe mit der US-Präsidentschaft von Donald Trump müssen die Europäer endlich darüber nachdenken: Haben wir einen Plan B für den Fall, dass in zwei oder drei Jahren ein neuer Donald Trump im Weißen Haus sitzt und die Nato für obsolet erklärt? Es ist zwingend, dass sich die EU ernsthaft mit der Frage ihrer eigenen Verteidigungsfähigkeit, ihrer außenpolitischen Entscheidungskraft und ihrer militärischen Stärke befasst.

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    Bringt das Normandie-Format, in dem Deutschland, Frankreich, die Ukraine und Russland an einem Tisch sitzen, überhaupt noch etwas? Oder geht es ohne die Amerikaner nicht?

    Ischinger: Solange Russland bereit ist, hier mitzumachen, sollte das Format am Leben erhalten werden. Russland scheint aber nur bereit zu sein, mit den USA ernsthaft über die europäische Sicherheitsordnung zu verhandeln. Deshalb wäre es wünschenswert, Amerika – egal ob als direktes oder indirektes Mitglied – am Normandie-Format zu beteiligen.

    Wird Russland in die Ukraine einmarschieren? Wie weit geht Präsident Putin?

    Ischinger: Man muss in der Sicherheitspolitik zwischen Fähigkeiten und Intentionen unterscheiden. Russland hat die Fähigkeit, in der Ukraine militärisch einzugreifen. Bei Putins Intentionen kann man nur spekulieren. Allerdings hatte ich in der mehr als 20-jährigen Amtszeit von Putin nie den Eindruck, dass er unbeherrschbare Risiken eingeht. Ich halte den Kremlchef nicht für einen Hasardeur. Ich kann mir deshalb einen großangelegten Panzerangriff quer durch die Ukraine nur sehr schwer vorstellen. Es ist aber denkbar, dass Russland ein militärisches Zeichen setzen könnte mit der Botschaft: Moskau meint es ernst mit dem Begehren, dass die Ukraine niemals in die Nato aufgenommen wird.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass es von Vorteil gewesen wäre, wenn sich Deutschland und Frankreich 2008 mit dem Nein für eine Nato-Einladung an die Ukraine durchgesetzt hätten. US-Präsident George W. Bush hatte aber auf eine Beitritts-Perspektive für die Ukraine und Georgien ohne Datum bestanden. Aus russischer Sicht war dies bereits eine Kriegserklärung.

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    Wie hart muss Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. Februar bei Putin in Moskau auftreten?

    Ischinger: Bei einer ersten Begegnung geht es zunächst darum, eine Gesprächsgrundlage und ein Grundvertrauen zu schaffen. Es wäre nicht sinnvoll, in Moskau auf den Tisch zu hauen und Bedingungen zu stellen. Viel wichtiger ist, dass der Kanzler dem russischen Präsidenten zunächst einmal zuhört. Ein Durchbruch ist von einem ersten Gespräch nicht zu erwarten.

    Wie soll der Westen einem immer robuster auftretenden China Paroli bieten?

    Ischinger: Der entscheidende Punkt ist, dass die EU eine gemeinsame China-Strategie entwickelt. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir brauchen kurz-, mittel- und langfristig eine enge transatlantische Abstimmung zwischen Europa und Amerika. Je geschlossener der Westen gegenüber China auftreten kann, desto größer ist die Chance, dass wir unsere Rechtsvorstellungen, unsere Werte und unsere Interessen gegenüber China vertreten können.

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    Derzeit ist die Welt von Krisen erfüllt wie selten. Sie leiten die Münchner Sicherheitskonferenz seit 2008. Was ist Ihr Rezept: Wie lassen sich die Spannungen am besten abbauen?

    Ischinger: Respekt vor dem Recht und die Förderung internationaler Institutionen wie die Vereinten Nationen. Das zentrale Interesse Deutschlands und der EU muss eine regelbasierte internationale Ordnung sein. Wir sind von einer funktionierenden Weltordnung abhängiger als alle anderen.