Washington. Sollte das Oberste Gericht in den USA Frauen das Recht nehmen, Schwangerschaften abzubrechen, drohe ein Kulturkampf, so Dirk Hautkapp.

Es ist die älteste und am meisten verhärtete Front im unheilvollen Wertekrieg, der die Vereinigten Staaten von Amerika spaltet: die Frage, wie viel Autonomie Frauen über ihren Körper haben sollen. Ob sie eine Schwangerschaft in den ersten Monaten legal und in medizinisch sicherem Umfeld abbrechen dürfen – oder nicht.

Fast ein halbes Jahrhundert lang hatten Frauen in den USA ein durch höchstrichterliche Entscheidung, nicht durch ein parlamentarisches Gesetz zustande gekommenes Recht darauf. Ebenso lange haben Abtreibungsgegner, angetrieben dort durch den Religionseifer evangelikaler Fundamentalisten, versucht, es ihnen wegzunehmen.

Wenn nicht alles täuscht, werden sie nach dem juristischen Erdbeben, das sich am Montagabend in Washington ereignet hat, damit in diesem Sommer Erfolg haben.

Aus für Abtreibung in den USA: Frauen wird die Selbstbestimmung abgesprochen

Dirk Hautkapp, Washington-Korrespondent
Dirk Hautkapp, Washington-Korrespondent © Privat | Privat

Sollte sich die von Donald Trump gezielt zwecks Wählerfang herbeigeführte konservative 6:3-Mehrheit am Obersten Gericht nicht in letzter Minute von dem jetzt beispiellos skandalös durchgestochenen Entwurf für ein Kippen des 1973 an gleicher Stelle ergangenen Grundsatzurteils „Roe versus Wade“ distanzieren, wird Frauen auf Bundesebene die Selbstbestimmung über ihren Körper abgesprochen.

Schwangerschaftsabbrüche bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (22. bis 24. Woche) wären illegal. Näheres regeln die Gliedstaaten. Je nach politischem Belieben.

Gesellschaftlich unheilvolle Kettenreaktion

Kommt es so, setzt eine gesellschaftlich unheilvolle Kettenreaktion ein, die einen gesellschaftlich unheilvollen Flickenteppich aus den USA macht. Etwa die Hälfte der Bundesstaaten, im konservativen Süden und Mittleren Westen, wird Abtreibung rigide erschweren bis ganz verbieten; auch bei Inzest oder Vergewaltigung.

Der liberale Teil an der West- wie Ostküste wird das Recht auf Schwangerschaftsabbruch durch regional begrenzte Gesetze befestigen.

Frauen werden auf illegale Abtreibungspraktiken angewiesen sein

Ein Abtreibungstourismus wird einsetzen für die, die es sich leisten können, Hunderte Kilometer weit zu fahren. Kliniken in demokratischen Hochburgen werden überrannt. Sozial schwache Frauen und Afroamerikanerinnen, die das Gros der Abtreibenden stellen, laufen Gefahr, erneut auf illegale Abtreibungspraktiken angewiesen sein zu müssen.

Und das alles vor dem Hintergrund, dass landesweit konstant über 60 Prozent der Amerikaner in seriösen Umfragen das geltende Abtreibungsrecht unangetastet sehen wollen. Die Lage, das haben bereits erste wütende Proteste beider Lager in der Nacht vor dem Supreme Court gezeigt, erinnert an Kerosin, das in ein offenes Feuer geschüttet wird. Wer sich dabei im November bei den Wahlen Hände und Reputation verbrennen wird, ist noch offen.

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Republikanern ist ein Triumph wichtiger als schwer erkämpfte Frauenrechte

Für die Republikaner, die seit Jahrzehnten mit dämonisierenden Untertönen gegen Abtreibung wettern, wäre die Revision von „Roe versus Wade“ ein historischer Triumph. Sie könnte Lust auf mehr machen, etwa die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe, und die Chancen auf eine Rückkehr Trumps 2024 erhöhen.

Gleichzeitig erhielten die in Umfragen schwer demolierten Demokraten ein scharfes Schwert im Kulturkrieg. Sich von reaktionär empfundenen Republikanern schwer erkämpfte Frauenrechte abspenstig machen zu lassen, berührt das Selbstverständnis von Millionen, die um ihre Privatsphäre bangen.

Gebildete, moderate Wählerinnen und Wähler aus den zunehmend wahlentscheidenden Vorstädten der Metropolen könnte die sich anbahnende Zeitenwende gleichzeitig in Scharen an die Wahlurnen treiben, knappe demokratische Mehrheiten im Parlament konsolidieren und so de facto die angeschlagene Präsidentschaft Joe Bidens retten.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.