Bad Lobenstein. Regionalgeschichte: Abteilung Inneres des Rates des Kreises Lobenstein bearbeitete die Anträge. Staatssicherheit wurde einbezogen

Die junge Krankenschwester wollte der DDR den Rücken kehren. Also schrieb sie mehr als 30 Ausreiseanträge. Ab 1985 immer mit dem selben Text: „Hiermit beantrage ich die Übersiedelung in die BRD zu meinem Vater.“ In der Abteilung Inneres des Rates des Kreises Lobenstein in der Behrstraße stapelten sich die Anträge. Die Mitarbeiter forderten vom Krankenhaus Ebersdorf mehrere Stellungnahmen. Fleißig, hilfsbereit und pflichtbewusst, korrekt, fürsorglich im Umgang mit Patienten lautete die Einschätzung des Arbeit­gebers.

Die Hartnäckigkeit der jungen Frau zahlte sich aus. Ihr wurde am 3. Mai 1989 genehmigt, den Arbeiter-und-Bauern-Staat zu verlassen. Die Kreisdienststelle Lobenstein des Ministeriums für Staatssicherheit hatte zugestimmt. Weit brauchte die Krankenschwester am 28. Juni 1989 nicht zu reisen. Ihr Vater wohnte in Nordhalben. Der hatte im März 1975 legal die DDR verlassen. Als 1987 seine Mutter starb, durfte er nicht zur Beerdigung einreisen.

In einem kleinen Dorf, das jetzt zur Einheitsgemeinde Remptendorf gehört, wohnte ein Ehepaar mit mehreren Kindern, das am 24. Oktober 1986 einen Antrag auf Ausreise stellte. Die Abteilung Inneres lud vier Wochen später zu einem Gespräch ein. Weitere folgten, auch auf der Arbeitsstelle des Mannes in der Landwirtschaft. Das Ehepaar nannte mehrere Gründe, warum es weg wollte. Das System sei unmenschlich, das Versorgungsniveau miserabel, man sei wie in einem Käfig eingesperrt, die Schulbildung sei zu einseitig und zu politisch, man könne nicht in die Länder fahren, in die man gern reisen wolle. Der sechste Antrag wurde im Juli 1987 gestellt. Ihre Bemühungen hatten Erfolg. Sie wurden aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen. Die Urkunde trägt das Datum vom 9. Juni 1989.

Fast alle Antragsteller beriefen sich auf die Schlussakte von Helsinki, die am 1. August 1975 auch die DDR unterzeichnete. Sie war einer der 35 Staaten, die an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teilnahmen. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg. 1984 waren es 57.600 und zwei Jahre später über 50.600. Fast ein Drittel der Bürger nahmen ihren Antrag wieder zurück. Wer weg durfte, musste seine Schulden bezahlt haben. Dazu finden sich in den Unterlagen des Archivs des Saale-Orla-Kreises diverse Belege. So zum Beispiel vom Zweckverband Wasser und Abwasser, von Vermietern und Stromversorgern. Die Ausreise ging dann oft sehr schnell. Wer von den Behörden die Genehmigung erhielt, der bekam einen Laufzettel. Abzugeben war auch der Personalausweis. Dafür gab es einen provisorischen Identitätsnachweis. Überreicht wurde eine Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. In dieser wird auf den Paragraf 10 des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft vom 20. Februar 1967 verwiesen.

Zu seiner Schwester im Westen wollte ein Bewohner des Pflegeheimes Ebersdorf. Der 1909 geborene Mann stellte 1985 einen Antrag. Die Schwester besuchte ihren Bruder öfters in Ebersdorf. Die Frau habe versucht, ihren Bruder zu beeinflussen, mutmaßte die Abteilung Inneres des Rates des Kreises. In Abstimmung mit der Kreisdienststelle Lobenstein des Ministeriums für Staatssicherheit schlug sie vor, eine Einreisesperre zu verfügen und dem Antrag auf Übersiedelung nicht stattzugeben.

Der Hauptgrund dafür dürfte die Tätigkeit seines Sohnes als wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Militärtechnischen Instituts der Nationalen Volksarmee in Königs Wusterhausen gewesen sein. Der Sohn des Heimbewohners war Geheimnisträger und hatte schon mehrere Jahre keinen Kontakt mehr mit seinem Vater. In dieser Akte im Kreisarchiv liegt auch ein Schreiben des Leiters des Pflegeheimes. Der betagte Herr sei blind, leide unter starken seelischen Depressionen und würde sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen seines Sohnes warten. Dieser erbarmte sich und nahm wieder Kontakt mit seinem ­Vater auf.

Mitte 1989 warteten mehr als 120.000 DDR-Bürger auf die ­Bewilligung ihres Ausreise­antrages. Seit dem Mauerbau im Jahr 1961 wurden bis September 1989 exakt 556.541 Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR von den Behörden genehmigt.