Berlin. Immer mehr Menschen machen ihre ADHS-Diagnose öffentlich. Eine Psychologin erklärt, warum das wichtig ist, aber auch Risiken birgt.

ADHS – noch vor wenigen Jahrzehnten wurde die psychische Störung vor allem mit kleinen Jungs in Verbindung gebracht, die nervös auf ihrem Stuhl herumzappeln. Doch ADHS ist keine Diagnose, die ausschließlich Kinder betrifft. Das zeigt auch ein Blick in die sozialen Medien: TikTok, YouTube und Instagram sind voll von AD(H)S-Selbstoffenbarungen erwachsener Menschen.

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Auch viele Prominente wie Eckart von Hirschhausen, Justin Bieber, Nelly Furtado, Felix Lobrecht, Emma Watson, Benjamin von Stuckrad-Barre und Adam Levine stehen offen dazu, ADHS zu haben – und befeuern damit den öffentlichen Diskurs. Während die einen davon überzeugt sind, dass die wachsende Aufmerksamkeit wichtig und richtig ist, sind sich andere sicher: ADHS ist kein echtes Problem, sondern nur eine Trend-Diagnose.

Symptome verstehen: Was genau ist eigentlich ADHS?

Um das beurteilen zu können, muss man zunächst verstehen, was ADHS bedeutet. ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet eine Verhaltensstörung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen. Sie ist durch Symptome und Auffälligkeiten in folgenden drei Kernbereichen gekennzeichnet:

  • Aufmerksamkeitsdefizite und Konzentrationsprobleme
  • starke Impulsivität
  • ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität)

Wie sich das äußert, erklärt Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie: „ADHS ist eine besondere Art zu sein, man ist neurodivers. Man könnte auch sagen, man hat ein anderes Betriebssystem. Es handelt sich dabei um eine erbliche Besonderheit.“

In Deutschland sind laut Neuy-Lobkowicz rund drei Millionen Menschen betroffen – andere Quellen sprechen von zwei bis drei Prozent der Erwachsenen. ADHS zu haben, bedeute aber nicht, dass man damit immer krank sei, so die Expertin. „Viele Betroffene kommen damit gut zurecht, aber sie haben ein anderes Stärke- und Schwächeprofil als andere Menschen.“

ADHS: Begleiterscheinungen und Folgeerkrankungen

Betroffene sind etwa schnell abgelenkt. Bei Dingen, für die sie wenig Interesse haben, treten teils starke Konzentrationsstörungen auf. Motivation, Prokrastination und Selbstorganisation sind große Themen. Häufig hätten Menschen mit ADHS eine „scharfgestellte Alarmanlage“, wie Neuy-Lobkowicz es nennt.

Sie sind schnell gekränkt, reagieren häufig sehr emotional. Sie erleben Gefühle sehr intensiv und es ist oft schwer für sie, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Dazu kommt oft eine innere Unruhe und Getriebenheit. Bei Kindern äußert sich das unter anderem im typischen „Herumzappeln“. Auf dem Weg ins Erwachsenenalter lernen viele Betroffene, das zu verstecken.

Gerade Frauen mit ADHS sind häufig unaufmerksam und haben Konzentrationsprobleme. Sie schweifen schnell ab, können schlecht zuhören und auch Deadlines nur schwer oder gar nicht einhalten.
Gerade Frauen mit ADHS sind häufig unaufmerksam und haben Konzentrationsprobleme. Sie schweifen schnell ab, können schlecht zuhören und auch Deadlines nur schwer oder gar nicht einhalten. © iStock | SIphotography

Aber: Nach außen zu verbergen, dass man sich innerlich eigentlich ganz anders fühlt, ist ein Kraftakt, der fatale Folgen haben kann: „Viel zu wenig bekannt ist, dass ADHS ein Risikofaktor für eine Reihe von seelischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen und Angststörungen ist“, sagt Neuy-Lobkowicz.

Diese kämen bei etwa 50 Prozent der Menschen mit ADHS vor. „Oft wird aber nicht das ADHS erfasst, sondern nur die Begleiterkrankung“, erklärt die Fachärztin. „Auch Suchterkrankungen und Zwangsstörungen kommen bei Menschen mit ADHS häufiger vor.“

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ADHS: Breites Spektrum an Ausprägungen

Wie bei allen psychischen Erkrankungen gibt es auch bei ADHS ein großes Spektrum an Ausprägungen. Je höher Betroffene sich auf diesem Spektrum befänden, desto mehr Probleme können entstehen, erläutert die Fachärztin. „Das kann bis zur kompletten Berufsunfähigkeit gehen.“

Es gehe also auch darum: Welchen Beruf übt die Person aus, in welcher Umgebung befindet sie sich? „Ein Förster hat weniger Probleme mit seinem ADHS als jemand, der in einem Großraumbüro Daten pflegen muss“, sagt Neuy-Lobkowicz, die kürzlich das Buch „Habe ich AD(H)S? ...und wenn ja, was mache ich Gutes draus?“ veröffentlicht hat.

ADHS-Expertin: „Ich bin sehr froh über die aktuelle Bewegung“

Dass ADHS aktuell viel Präsenz im gesellschaftlichen Diskurs erfährt, begrüßt die Expertin. Diese Entwicklung hätte sie sich schon viel früher gewünscht: „Vieles, was wir heute über ADHS wissen, wissen wir seit 25 Jahren. Damals gab es jedoch einen unglaublichen Widerstand, vor allem auf Seiten von Journalisten, den wissenschaftlichen Stand zur Kenntnis zu nehmen.“

Das habe sich vor allem in den letzten drei bis vier Jahren geändert, so die Expertin: „Ich bin sehr froh über die aktuelle Bewegung. Dass nun alle davon sprechen, ist vor allem den sozialen Medien zu verdanken.“ Dort werde Druck von Betroffenen aufgebaut und das sei wichtig.

Auf Social-Media-Plattformen finden Angehörige und Menschen mit ADHS nicht nur erste Information über die Besonderheiten der Störung, sondern auch die Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung. 
Auf Social-Media-Plattformen finden Angehörige und Menschen mit ADHS nicht nur erste Information über die Besonderheiten der Störung, sondern auch die Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung.  © iStock | SIphotography

Therapeutinnen und Therapeuten sowie Psychiaterinnen und Psychiater sollten sich nun damit beschäftigen, findet Neuy-Lobkowicz. „ADHS ist eines der häufigsten Krankheitsbilder in unserem Fachgebiet. Es kommt dreimal häufiger vor als Schizophrenie. Wenn ein Psychiater sagen würde, dass er nichts von Schizophrenie versteht, wären wir entsetzt.“

So sei es aktuell jedoch mit ADHS, so die Expertin. Viele Fachärztinnen und Psychotherapeuten böten keine ADHS-Diagnostik und -Behandlung an. Manche Chefärzte sagen laut Neuy-Lobkowicz sogar immer noch: „ADHS gibt es nicht.“

Social-Media-Präsenz bringt auch eine Schattenseite mit sich

Auf Social-Media-Plattformen finden Betroffene die Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung. Oftmals geben virale Clips und Postings auch erst den Anstoß, sich mit dem Thema zu beschäftigen: „Durch die Bewegung auf Social Media fällt vielen Betroffenen, die zum Teil auch schon lange wegen Begleiterkrankungen in Behandlung sind, auf: ‚Was da beschrieben wird, bin ich!‘“, erzählt Neuy-Lobkowicz.

Ohne Social Media hätte ADHS diese breite Aufmerksamkeit sicher nicht bekommen, da ist sich die Expertin sicher. Doch die Präsenz des Themas hat auch eine Schattenseite: Manche Personen „überidentifizieren“ sich, denken also fälschlicherweise sie hätten ADHS.Neurodivers hat mittlerweile auch etwas Besonderes, Tröstliches und Individuelles“, so die Expertin. „Bei 10 bis 15 Prozent der Menschen, die zu mir kommen, liegt eine Überidentifikation vor.“ Der Rest liege jedoch mit seiner Vermutung richtig.