Bad Neuenahr-Ahrweiler. Die Flutopfer im Ahrtal leben weiter im Ausnahmezustand. Doch zwischen Schlamm und Trümmern hat sich eine neue Gemeinschaft gebildet.

Die Statue des Brückenheiligen Nepomuk hängt schief über der Ahrbrücke bei Rech im Landkreis Ahrweiler. Das Wasser donnerte in der Nacht des 14. auf den 15. Juli gegen die Steinbogen der Brücke. Die Flut brach den vierten Brückenbogen aus dem 18. Jahrhundert aus dem rechten Ufer heraus wie ein Riese, der einem Spatz den Flügel herausreißt.

Dennis Büchling steuert den Helfer-Shuttle auf dem Weg zum Ballern durch das Ahrtal. Büchling und die im Messengerdienst WhatsApp miteinander verbundenen Gruppe nennen sich selbst „Team Ballern“. Gemeinsam geballert wird nicht an der Konsole, sondern mit dem Stemmhammer an von Schwarzschimmel überzogenen Wänden in den Dörfern und Städten entlang des Flusses.

Ahrtal – das klingt nun nach Schlick, Schlamm und Verwesung

Der Weg führt durch Orte, deren Namen seit der Flutkatastrophe nach Schlick, Schlamm und Verwesung klingen. Marienthal, Dernau und Mayschoß, Schuld liegt noch circa 30 Kilometer entfernt die Landstraße an der Ahr entlang. Das Monster hat sich wieder in sein Flussbett zurückgezogen. Die Ahr plätschert unschuldig und knietief vor sich hin.

Schlammspuren an den Fassaden verraten, wo die Bewohner sich in den oberen Stockwerke retten konnten oder wo nur die Dächer die letzte Zuflucht blieben, als das Wasser kam. Häuser mit eingerissenen Wänden sind oft schon Rohbauten gewichen. Aber auch Ruinen stehen noch. Einem Fachwerkhaus ist das Dach geblieben, von den unteren Stockwerke nur ein Holzskelett.

Licht in der Dunkelheit: In Mayschoß sind kurz vor dem Fest die Spuren der Katastrophe noch überall zu sehen.
Licht in der Dunkelheit: In Mayschoß sind kurz vor dem Fest die Spuren der Katastrophe noch überall zu sehen. © AP | Michael Probst

Täglich kommen noch immer Dutzende Helfer ins Ahrtal

Immerhin hat sich der Gestank aus dem Ahrtal verzogen. Dennis Büchling erinnert sich an den Geruch nach Tod und Verfall aus den schlammbedeckten Wohnungen. Er meint, dass das Ahrtal im Vergleich zur Verwüstung im Sommer schon nicht mehr wiederzuerkennen sei. Dutzende Helfer rücken immer noch täglich an.

Im Sommer waren es noch viel mehr, die sich jeden Tag von einem Gelände neben einer Haribo-Fabrik in der Gemeinde Grafschaft nördlich von Bad Neuenahr-Ahrweiler in Busse setzten, um ins Ahrtal zu fahren. Anwohner können sie am Telefon oder online anfordern. Der von den Ahrtalern Marc Ulrich und Thomas Pütz ins Leben gerufene Shuttledienst zählt bis heute 100.000 beförderte Helfer. Lesen Sie auch:Hochwasser-Held: Dieser Mann rettete die Steinbachtalsperre

Die ersten arbeitsfreien Tage in diesem Jahr

Büchling hat seinen Jahresurlaub im Schlamm der Ahr verbracht. Die Weihnachtstage werden die ersten arbeitsfreien Tage in diesem Jahr sein, die er nicht am Stemmhammer verbringt. Der Helfer-Shuttle wird über die Festtage und vielleicht bis ins Frühjahr hinein pausieren.

Der Winter und die Corona-Pandemie hätten zu einem Rückgang der Helferzahl geführt, erklärt Initiator Marc Ulrich. Büchling wirkt nach auszehrenden Monaten, als er könne er sich vom Ahrtal und der „Riesenaufgabe“ dort nicht trennen.

Flut: Sind die Freiwilligen nicht mehr gefragt?

Manche sehen bereits den Zeitpunkt für das Ende der Freiwilligenarbeit im Ahrtal gekommen. Die Handwerkskammer Koblenz (HwK) lobte jüngst den Beitrag der Helfer beim Entkernen der beschädigten Häuser. Jetzt sollten aber Fachbetriebe und Meister die Arbeiten an Elektrik, Heizung und Energieversorgung übernehmen.

Dennis Büchling spricht dagegen von der Beschleunigung des Wiederaufbaus durch die Arbeit der Freiwilligen. Versicherungen zahlten für die Inanspruchnahme von Handwerkern erst, wenn Gutachten erstellt seien. Die Gutachter kämen angesichts der Nachfrage nicht mit ihrer Arbeit nach, meint er. Neue Heizungen für das Ahrtal seien aufgrund von Lieferschwierigkeiten schwer zu bekommen.

Schlamm und Zerstörung: So sah es Mitte Juli auch in der Gemeinde Ahrbrück aus.
Schlamm und Zerstörung: So sah es Mitte Juli auch in der Gemeinde Ahrbrück aus. © epd | Frank Schulze

Stundenlang arbeiten die Männer am Stemmhammer

An der Kreuzstraße in Bad Neuenahr-Ahrweiler hat die Flut den Asphalt weggespült. Das Helfer-Shuttle fährt über eine Erdpiste an die Häuser heran. Dennis Büchling verschwindet mit anderen „Ballerinas“ in einem Hauseingang und die Treppe herunter in einen Keller. Dort liegen bereits die Stemmhämmer.

Wenige Stunden im ohrenbetäubenden Lärm später sind alle mit Staub bedeckt und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Joachim Heilemann hat Familie in dem Haus, in dessen Keller die Helfer arbeiten. Er bringt einen Kasten Bier vorbei. Abends unterhalten sich Heilemann und Büsching, als würden sie sich schon lange kennen.

Vor Weihnachten kreisen die Gedanken um die Toten

Der Bad-Neuenahrer meint, dass er Weihnachten noch nie gemocht habe. Aber in diesem Jahr müsse er an die tote Familie denken, die er am Tag nach der Flut aus einem Auto zog und die ertrunkene Nachbarin, die er in ihrer Wohnung fand.

Er ist einer der Helfer, die schon in den ersten Tagen nach der Katastrophe im Einsatz waren. Büsching sagt, dass die Aufgabe der freiwilligen Helfer über Schutt abtragen und Räume von vermoderten Estrich befreien hinausgehe. „Mit uns können die Leute reden“, sagt er.

Viele syrische Flüchtlinge halfen nach der Flut

Melanie Brücken erinnert sich an die ersten Syrer, der kurz nach der Flut vor der Tür ihres zum Treffpunkt für Flutopfer und zur Anlaufstelle für Helfer umgewandelten Coworking-Space in Sinzig stand. Anas Alakaad und Faris Allaham hatten sich aufgemacht, um im Ahrtal zu helfen.

Brücken organisierte damals Hilfe in der Stadt, in der zwölf Bewohner einer Behinderteneinrichtung den Fluten nicht entkamen. An der Fensterscheibe des Coworking-Space heftet nun ein Aufkleber der Gruppe „Syrische Freiwillige in Deutschland“. Dem einem syrischen Helfer folgten viele andere.

Packten mit an: Jennifer Fleischer (l.), Melanie Brücken, Abdul Muain und Ammer Mnini (r.).
Packten mit an: Jennifer Fleischer (l.), Melanie Brücken, Abdul Muain und Ammer Mnini (r.). © Cedric Rehmann | Cedric Rehmann

Abdul Muanin will in Sinzig leben: „Das ist ein guter Ort“

Auf dem Kirchplatz in Sinzig halten an diesem Adventssamstag Weihnachtstrucks des Aktionsbündnisses für Kinder in Deutschland und verteilen Geschenke an die Sinziger. Die Syrer Abdul Muanin und sein Freund Ammar Mnini aus Cottbus stehen in der Menge und hören „Jingle Bells“. Immer wieder wird ihnen zugewunken. Die beiden Syrer wollen baldmöglich nach Sinzig ziehen.

Abdul Muanin hat im Bürgerkrieg seine Familie verloren. Wenige Tage nach der Flut fand er ein totes Kind im Schlamm. Warum will jemand, der schon in seinem Heimatland viel Leid gesehen hat, ausgerechnet in einer verwundeten Stadt in Deutschland leben? „Hier kamen Tausende nach der Flut zusammen, um zu helfen. Das ist ein guter Ort“, sagt er.

Luan Krasniqi bewacht die Wohnung seiner Eltern

Luan Krasniqi hat sich ein in blauer Folie eingepacktes Geschenk mitgenommen. Der 23-Jährige will sein wahren Namen nicht nennen. Es muss niemand wissen, dass er allein für die anderswo einquartierten Eltern die Wohnung in einem Block hütet, in dem er vor der Flut 60 Menschen wohnten.

„Die Polizei fährt nachts Streife“, antwortet er auf die Frage, ob er da nicht manchmal vor Einbrechern Angst habe. Schlimmer sei es, in den Keller zu müssen, wenn das Licht in der Wohnung ausgeht. Dort steht das Notstromaggregat nur einen Stockwerk über der Tiefgarage, in der in der Flutnacht zwei Kinder ertranken.

Steinmeier in Ahrweiler- Es liegt viel Arbeit vor uns

weitere Videos

    Viele haben nur funktioniert – und brechen jetzt zusammen

    Bei vielen Flutopfern sind die seelischen Wunden nicht verheilt. Helfer berichten von Überlebenden, die bei Regen in Panik geraten. Melanie Brücken macht sich Sorgen um die Familienväter und allgemein um Männer über 40. „Die haben seit der Flutnacht nur funktioniert. Jetzt gibt es weniger zu tun und viele brechen zusammen“, sagt sie.

    56.000 Menschen leben im Kreis Ahrweiler. 134 starben in der Flutnacht. Rund 17.000 verloren Hab und Gut und damit auch den Weihnachtsschmuck. Den Stern, den das Kind in der Schule gebastelt hat, hat die Ahr genauso weggespült wie die Christbaumkugeln der Großeltern.

    Im Coworking-Space von Melanie Brücken werden die Helfer mit den Flutopfern zusammen Heiligabend feiern. „Da gehe ich hin“, sagt Luan Krasniqi. Sein Weihnachtsgeschenk hat er ja noch nicht ausgepackt.