Berlin. Wie begegnet Deutschland einer möglichen Corona-Welle im Herbst? Ein Experten-Gremium stellte am Freitag ein neues Gutachten dazu vor.

  • Ein Experten-Gremium hat ein Gutachten zu den Corona-Maßnahmen vorgestellt
  • Die Ergebnisse sind ernüchternd und sorgen für Kritik
  • Was die Experten festgestellt haben

Die Erwartungen waren groß – das Ergebnis ist ernüchternd: Die Sachverständigenkommission zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen hat ihr 160-Seiten-Zeugnis für die Politik vorgelegt. Was hat funktioniert? Was hat gefloppt? Die Antwort der Juristen, Virologen, Sozialforscher, Psychologen und Ökonomen fällt sehr differenziert und vor allem sehr gemischt aus. Keine Maßnahme ist komplett durchgefallen, aber nur zwei bekommen ein echtes Lob. Jetzt liegt der Ball im Feld der Ampel-Regierung.

„Es ist keine Generalabrechnung“, bilanzierte der Sachverständige Christoph M. Schmidt, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) am Freitag in Berlin. „Jede Maßnahme hat ihre Zeit“, ergänzte Hendrik Streeck, Virologe an der Universität Bonn. Selbst ein Lockdown könne am Anfang einer Pandemie helfen, das Gesundheitssystem zu schützen.

Corona: Experten wollen eingeschränkte Maskenpflicht

Das Maskentragen in Innenräumen bekommt ein Lob – aber mit Einschränkungen. Studien zeigten: Das Tragen von Masken könne ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein. Aber: Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske habe einen verminderten bis keinen Effekt. Die Effektivität hänge also stark vom Träger ab.

Zur Maskenpflicht haben die Experten eine klare Position: "Da die Übertragung des Coronavirus im Innenbereich ungleich stärker als im Außenbereich ist, sollte eine Maskenpflicht zukünftig auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben. Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar."

In Risikosettings, wie medizinischen oder pflegerischen Bereichen, sollte aus hygienischer Sicht zum Fremd- und Selbstschutz die FFP2-Maske präferiert werden

Kommentar zum Thema:Corona-Experten-Gutachten enttäuscht, nur einmal nicht

Corona-Lockdown: Experten wägen ab

Hier trauen sich die Experten kein endgültiges Urteil zu: Es gebe "keinen Zweifel", dass generell die Reduktion enger physischer Kontakte zur Reduktion von Infektionen führe, schreiben die Experten. Gerade zu Beginn einer Pandemie sei es sinnvoll, die Übertragung in der Bevölkerung soweit es geht zu reduzieren, um das Gesundheitssystem auf die bevorstehende Krankenlast einzustellen.

Zusätzlich könne man den Ausbruch so womöglich lokal begrenzen: "Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker." Aber: "Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen", urteilt das Gremium.

Die Folgen sind hinlänglich bekannt: die Verschlechterung der Grundgesundheit durch verschobene Behandlungen, nicht erkannte Erkrankungen, die Zunahme von psychischen Erkrankungen und existenziellen Nöten. Das Fazit der Experten: "Die Wirksamkeit eines Lockdowns ist also in der frühen Phase des Containments am effektivsten, verliert aber den Effekt wiederum schnell."

Corona-Gutachten: 2G- und 3G – nur mit Test sinnvoll

Daumen hoch? Daumen runter? Weder noch: Der Effekt von 2G- und 3G-Maßnahmen sei bei den derzeitigen Varianten in den ersten Wochen nach der Booster-Impfung oder der Genesung hoch. Der Schutz vor einer Infektion lasse mit der Zeit jedoch deutlich nach.

Der Rat der Experten: Sei man aufgrund eines hohen Infektionsgeschehens und einer drohenden Überlastung des Gesundheitswesens gezwungen, Zugangsbeschränkungen einzuführen, "so ist bei den derzeitigen Varianten und Impfstoffen eine Testung unabhängig vom Impfstatus als Zugangsbedingung zunächst zu empfehlen." Heißt: Auch Geimpfte sollten sich testen lassen.

Corona-Experten: Schulschließungen hatten Folgeschäden

„Ein sehr emotionales Thema – aber wir können es nicht in voller Gänze beurteilen“, so Streeck. Der Bericht bleibt daher sehr vorsichtig in der Bewertung: "Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen. Auch, weil im schulischen Bereich eine Reihe von Maßnahmen gleichzeitig eingesetzt wurden und damit der Effekt von Einzelmaßnahmen nicht evaluiert werden kann."

Klar sei dagegen: Die Folgeschäden seien "nicht von der Hand zu weisen". Der Vorschlag der Experten: Eine neue Expertenkommission, die Auswirkungen Schulschließungen genauer evaluieren solle.

Corona-Gutachten: Politik hat Wirtschaft gut gerettet

In diesem Punkt gibt es ein klares Lob: Bund und Länder hätten frühzeitig auf die drohenden Konsequenzen reagiert und große finanzielle Anstrengungen unternommen um gegenzusteuern. "In der Tat ist es trotz bislang beispielloser Hemmnisse des Wirtschaftslebens nicht zu einem so starken Einbruch der Wirtschaftsleistung gekommen wie in der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09", loben die Experten.

Ein großer Anstieg der Beschäftigungslosigkeit sei bisher ebenso ausgeblieben wie ein drastischer Einbruch der verfügbaren Einkommen oder ein massiver Anstieg der Unternehmensinsolvenzen. "Insgesamt dürften die Maßnahmen grosso modo somit einen wichtigen positiven Beitrag im Pandemiemanagement geleistet haben", so das Gremium.

Kritik üben die Experten an der Sieben-Tage-Inzidenz als Schlüsselparameter: Dieser Wert sei problematisch, weil die Melderate abhängig von den Teststrategien sei und nicht alle positiven Testergebnisse erfasst und die Dunkelziffer an Infektionen nicht berücksichtigt. Eine valide Inzidenz, also die tatsächliche Erkrankungsrate, könne nur mit repräsentativen Zufallsstichproben ermittelt werden.

Welche Experten stehen hinter der Evaluierung?

Die interdisziplinäre Runde aus unabhängigen Sachverständigen wurde jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Bundestag benannt. Zu den prominenten Mitgliedern der Kommission gehörte zunächst auch der Virologe Christian Drosten, er stieg aber nach Kritik an Zusammensetzung und Arbeitsbedingungen aus. In ihrem Bericht klagen die Experten nun ebenfalls: Der Auftrag sei zu spät gekommen, es habe eine ausreichende Datenerhebung gefehlt, „die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen“.

Christian Drosten war nach Kritik an Arbeitsbedingungen und Zusammensetzung aus dem Gremium ausgestiegen
Christian Drosten war nach Kritik an Arbeitsbedingungen und Zusammensetzung aus dem Gremium ausgestiegen © Michael Kappeler/dpa | Unbekannt

Bis zuletzt dabei waren unter anderem Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), die Juristen Stefan Huster (Bochum) und Andrea Kießling (Frankfurt) sowie der Virologe Hendrik Streeck von der Universität Bonn. Für Drosten war der ehemalige WHO-Forschungskoordinator Klaus Stöhr nachgerückt.

Corona-Gutachten: So reagiert die Politik

Viel Zeit bleibt nicht: Am 23. September laufen die aktuell gültigen Corona-Regeln im Infektionsschutzgesetz aus. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann rief die Koalition zu raschem Handeln auf: Der Bericht zeige deutlich, dass es „ein breites Instrumentarium wirkungsvoller und bewährter Schutzmaßnahmen gibt“, sagte sie unserer Redaktion. Masken, Kontaktreduktion oder Zugangsbeschränkung – solche Maßnahmen müssten den Ländern rechtzeitig im Infektionsschutzgesetz zur Verfügung gestellt werden.

Linken-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali dagegen nannte das Gutachten „eine Enttäuschung“. Es gebe keine Antwort darauf, wie ein weiteres Corona-Chaos im Herbst verhindert werden könne. Die Gesundheitsminister der Länder forderten die Ampel auf, noch vor der Sommerpause einen Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorzulegen.

Die FDP deutete das Gutachten auf ihre Weise: „Klar ist, dass es mit der FDP keine flächendeckenden Lockdowns oder Schulschließungen mehr geben wird“, sagte Fraktionsvize Lukas Köhler unserer Redaktion. Vize-Unionsfraktionschef Sepp Müller sieht das ähnlich: „Erneute Grundrechtseingriffe wie Lockdowns oder Schließungen“ sollten künftig vermieden werden.

FDP-Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger betonte, die teils massiven Folgen der Maßnahmen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien müssten für den Herbst und Winter eine deutlich größere Rolle spielen. Es sei dramatisch, dass den Schulschließungen zwar immense Folgen, aber kein genauer Effekt auf die Pandemiebekämpfung bescheinigt werden könne. „Deshalb darf es keine flächendeckenden Schulschließungen mehr geben“, sagte die Ministerin unserer Redaktion.

In puncto Masken zeigte sich FDP-Justizminister Marco Buschmann offen: Die Evaluation lege ein besonders gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis des Maskentragens nahe. „In dem Schutzkonzept für Herbst und Winter kann das Maskentragen deshalb bei steigender Infektionsdynamik eine Rolle spielen.“ Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte am Nachmittag: „Ab heute wird verhandelt.“

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Was Ärzteverbände zum Gutachten sagen

Applaus gab es vor allem für die deutliche Kritik am deutschen Datennotstand: Der „Datenblindflug“ müsse endlich beendet werden, sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt unserer Redaktion. Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Hausärzteverbandes, sieht das genauso: „Die Verbesserung der Datenlage muss in den kommenden Monaten eine der absoluten Prioritäten sein.“ Ein Versäumnis sei zudem, dass es in Deutschland kaum so genannte Kohortenstudien gebe, die Gruppen von Menschen über einen längeren Zeitraum begleiten.

Mit Blick auf die Pandemiefolgen für Kinder und Jugendliche forderte Reinhardt einen Runden Tisch von Gesundheits- und Kultusministern sowie mit Ärzten, Pädagogen und anderen wissenschaftlichen Disziplinen, um eine tragfähige Corona-Strategie für Schulen und Kitas zu entwickeln. Nötig seien zudem mehr psychosoziale Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche, die bis heute unter den Folgen von Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen litten.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.