Berlin. Gesundheitsminister Lauterbach macht Inventur und findet zu wenig Impfstoff. Experten sind besorgt, die Union weist Kritik zurück.

Karl Lauterbach ist einer, für den viele Entwicklungen in der Pandemie vorhersehbarer waren als für andere Menschen. Doch in dieser Woche erlebte offenbar auch der neue SPD-Gesundheitsminister eine Überraschung: „In der Tat, wir haben zu wenig Impfstoff“, sagte Lauterbach am Dienstagabend in den ARD-„Tagesthemen“, „Das hat viele überrascht – mich auch.“

Schon wieder Impfstoffmangel, und das mitten in der Booster-Kampagne und mit Omikron vor der Tür? Lauterbachs Einlassung sorgte am Mittwoch für Sorge und harsche Kritik. Was Sie jetzt dazu wissen müssen:

Ist genug Impfstoff da?

Nein, sagt das Bundesgesundheitsministerium. Ein Sprecher wiederholte Lauterbachs Warnung am Mittwoch: Die Inventur habe ergeben, dass in den ersten drei Monaten des neuen Jahres vorerst deutlich weniger ausgeliefert werden könne, als jetzt wöchentlich verimpft werde.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Wie viel Impfstoff fehlt?

Konkrete Zahlen, wie viele Dosen wirklich fehlen, nannte das Gesundheitsministerium am Mittwoch nicht. Nach bisheriger Planung sollen vom wichtigsten Lieferanten Biontech in der ersten Jahreshälfte jeden Monat 12 Millionen Dosen kommen, aufgeteilt auf Erwachsenen- und Kinderimpfstoff. Lesen Sie auch: Impfstoffmangel: Sorgt Lauterbachs Aussage für mehr Chaos?

Zuletzt verimpft wurden allerdings in Rekordtempo rund sechs Millionen Dosen die Woche – hält sich dieses Niveau, könnte mehr Nachschub erforderlich sein als bisher gedacht.

Das Ministerium will jetzt rasch klären, welcher Mehrbedarf an Impfstoff ab Januar besteht. Lauterbach plant, an diesem Donnerstag die weiteren Schritte bei der Impfstoffversorgung für das erste Quartal 2022 öffentlich zu erläutern.

Kurzfristig will die Bundesregierung für rund 2,2 Milliarden Euro zusätzliche 80 Millionen Dosen von Biontech über EU-Verträge kaufen, dazu weitere 12 Millionen Dosen direkt. Das teilte das Gesundheitsministerium nach Bewilligung der Mittel durch den Haushaltsausschuss am Mittwoch mit.

Wie es zu dem erwarteten Mangel gekommen sein soll, ist unklar. Ein möglicher Grund könnte sein, dass ein Teil der Impfstofflieferungen laut Ministerium bereits auf Dezember vorgezogen wurde. Wegen der massiven Ausweitung der Booster-Kampagne und der neuen, einrichtungsbezogenen Impfpflicht gibt es einen hohen Bedarf an Corona-Vakzinen.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kritisierte Lauterbachs Amtsvorgänger Jens Spahn (CDU) für die Lage: Da habe der Vorgängerstab im Bundesgesundheitsministerium offensichtlich „nicht klar Schiff gemacht“, sagte Heil im ZDF.

Was sagt die Union zu den Vorwürfen?

Jens Spahn, an den sich die Kritik in erster Linie richtet, schweigt. Dafür äußerte sich die Unionsfraktion im Bundestag In einem Schreiben an ihre Abgeordneten kritisiert sie den neuen Gesundheitsminister massiv. „Karl Lauterbach ruft Feuer, um dann Feuerwehr zu spielen – obwohl er weiß, dass es gar nicht brennt“, heißt es in dem Schreiben.

Nachdem Bund und Länder Mitte November beschlossen hätten, die Booster-Kampagnen zu beschleunigen, habe Spahn „eine Reihe von Maßnahmen ergriffen“. So seien unter anderem zusätzliche acht Millionen Dosen Moderna sowie drei Millionen Biontech-Dosen von Polen angekauft worden.

Dann wird vorgerechnet: Von derzeit 55,8 Millionen geimpften Erwachsenen hätten 39 Prozent (21,5 Millionen) bereits eine Booster-Impfung. Für die verbleibenden 34 Millionen stehe genug Impfstoff in den kommenden Wochen zur Verfügung, um „kurzfristig ein entsprechendes Angebot machen zu können – völlig unabhängig davon, wann die Zweitimpfung verabreicht wurde“.

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Was heißt das für die Impfkampagne?

Viele Ärztevertreter reagierten auf Lauterbachs Warnung irritiert bis geschockt. Ulrich Weigeldt, Präsident des Hausärzteverbands, sieht den Impferfolg gefährdet: „Das bremst die Impfkampagne völlig aus“, sagte Weigeldt unserer Redaktion.

Er kritisierte aber auch Lauterbachs Kommunikation: „Als Ministerium ausschließlich das Problem zu melden, ohne dazuzusagen, was man konkret tut, um das zu ändern, ist problematisch und wirkt sich auch auf die Impfbereitschaft aus“, sagte er. „Die Botschaft muss sein, wir schaffen den Impfstoff ran.“

Andere mahnten, Ruhe zu bewahren. „Es ist gut, dass der neue Bundesgesundheitsminister eine umfassende Inventur gemacht hat“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebunds, Frank Ulrich Montgomery, unserer Redaktion.

So wisse man jetzt, dass von der Vorgängerregierung nicht ausreichend Impfstoff für das Booster-Programm bestellt worden sei. Das sei aber kein Wunder, schließlich sei das erst in den letzten Wochen beschlossen worden. Jetzt habe das Gesundheitsministerium genug Zeit, mehr Impfstoff zu besorgen. „Für Panik oder Unruhe ist überhaupt kein Platz“, so Montgomery.

Der Sozialverband VdK drang darauf, im Falle eines Impfstoffmangels jetzt vorrangig Menschen aus Risikogruppen zum dritten Mal zu impfen. „Wenn es im ersten Quartal des neuen Jahres tatsächlich zu wenig Impfstoff geben sollte, müssen jetzt dringend alle Risikogruppen bevorzugt geboostert werden“, sagte die VdK-Präsidentin Verena Bentele unserer Redaktion. „Noch immer warten viele alte und andere gefährdete Menschen auf einen Termin für eine Impfauffrischung. Das ist für sie lebensgefährlich.“