Hamburg. Wolf Biermann feiert 85. Geburtstag. Im Interview erzählt er, warum es ihm wenig ausmachte, wegen Corona nicht auftreten zu können.

Der Liedermacher Wolf Biermann hat deutsche Geschichte erlebt und geprägt. In der deutsch-deutschen Auseinandersetzung um das bessere Gesellschaftsmodell wurde er zur Symbolfigur: Seine Ausbürgerung 1976 war eine Wegmarke der Opposition in der DDR. Lars Haider, Chefredakteur des „Hamburger Abendblatts“, hat einen Mann getroffen, der immer sagt, was er denkt.

Herr Biermann, ich habe mich gefragt, ob eines der schönsten Geschenke zu Ihrem 85. Geburtstag der Ausgang der Bundestagswahl war, aus der Olaf Scholz als voraussichtlich nächster Kanzler hervorgegangen ist. Sie haben einmal gesagt, dass Sie ihn sehr schätzen.

Wolf Biermann Ich freue mich, dass die Erben der Nazi-Diktatur, also die AfD, und die Erben der DDR-Diktatur, also die SED-PDS, die sich jetzt Linke nennen und es nach meiner Meinung weiß Gott nicht sind, verloren haben. Das muss einem wie mir erst einmal gefallen, auch wenn das noch lange nicht heißt, dass nun alles gut ist. Die Probleme, die die Deutschen haben, können von den Leuten, die es jetzt mit dem Olaf Scholz versuchen, womöglich gut gelöst werden. Ich kenne ihn lange Jahre. Als mal vor drei, vier Jahren die Rede darauf kam, was passieren wird, wenn Angela Merkel aufhört, da sagte ich: Wenn die Merkel nicht mehr kann oder will, dann sollte, wenn es nach mir ginge, dieser kühle, klare, knallharte Hanseat das Schiff Deutschland lenken.

Sie sind mit Angela Merkel befreundet, kann man das sagen?

Das ist keine Übertreibung, das hat sich so ergeben.

Wie ist es zu dieser Freundschaft gekommen?

Das ist eine komische Geschichte. Angela Merkel wird geehrt mit dem Leo-Baeck-Preis. Natürlich nicht für ihre Verdienste, nicht für ihr tolles Management zwischen Deutschen und Juden, dazu hatte sie damals noch keine attraktive Gelegenheit. Es ist eine Art Vorschusslorbeer, der sagen soll: Kümmere dich um dieses Verhältnis, wenn du an die Macht kommst. Sie kriegt also diesen Preis verliehen, und ich kenne sie überhaupt nicht. Und dann fragen die Leute, die den Preis verleihen, plötzlich bei mir an: „Herr Biermann, wir möchten so gerne, dass Sie die Laudatio halten.“

Die Wahrheit ist, aber das muss unter uns bleiben: Die waren nicht gerade entzückt, dass dieser Biermann die Laudatio hält. Die wollten irgendeinen großen Politiker, der in der Weltgeschichte etwas zu sagen hat. Aber Angela Merkel sagte, weil sie ja stur ist und sich von keinem die Butter vom Brot nehmen lässt: „Ich will, dass Wolf Biermann die Laudatio hält.“ Sie kannte mich aber gar nicht, ich kannte sie nicht, das passte ja prima.

Meine Frau Pamela und ich fanden, dass ich das machen sollte. Weil wir sie gut finden, weil wir uns in keiner Weise verbiegen, verhöflichen müssen, um eine Laudatio zu liefern. Das habe ich dann auch gemacht, es war ein großer Bahnhof im Hotel Adlon. Ich habe das gesagt, was ich denke und fühle, wie ich es mein Leben lang getan habe, ich muss mich da gar nicht verstellen. Ich habe meine Rede gehalten, und dann passierte etwas Interessantes. Hinterher kam diese Preisträgerin, Merkel, zu mir, bedankte sich für meine Rede und sagte etwas, was mich sehr verblüfft hat. Sie sagte: „Herr Biermann, ich hatte Angst, dass Sie mich in die Pfanne hauen.“ Da staunte ich. Sie hatte Angst, dass ich sie in die Pfanne haue. Und dann erklärte sie mir: „In solchen Sachen darf man nicht feige sein.“ Und Angela Merkel ist nicht feige, sie ist neugierig auf die Welt und auf die Menschen. Das hat mir gefallen. Mit so einer kann man sich anfreunden.

Angela Merkel wirkt auch nicht wie jemand, dem eine schwere Last von den Schultern genommen ist.

Die ist nicht befreit, sie war ja nicht in der Sklaverei der Macht. Es fällt von ihr gar keine Last ab. Sie hat ihre Sache, so gut sie kann, gemacht. Ich finde, sehr erfolgreich. Deswegen muss man sich um sie überhaupt keine Sorgen machen.

Sorgen macht mir, wie unterschiedlich sich Deutschland entwickelt. Wie ist es möglich, dass die AfD im Osten unseres Landes so stark geworden ist, warum sind ausgerechnet dort die Impfquoten so niedrig? Haben Sie dafür eine Erklärung?

Ich habe in diesen Tagen noch einmal darüber nachgedacht und dabei etwas Neues begriffen, was ich vorher nicht wusste. Ich sage gelegentlich, dass ich zwei deutsche Diktaturen überlebt habe, die Nazi-Zeit und die Stalin-Zeit in der DDR. Das hört sich gut an und ist auch richtig. Wenn man genauer hinsieht, gibt es einen aufregenden Unterschied.

In der Nazi-Zeit, in diesen zwölf Jahren, war es doch so, dass die allermeisten Deutschen begeistert von Adolf Hitler waren, von dieser Diktatur. Es gab in der tausendjährigen Geschichte Deutschlands, an die ich denke, wenn ich an diesen Vogelschiss-Idioten denke, wahrscheinlich keine Zeit, in der die Deutschen ihren Oberchef so bewunderten wie den Führer. Das ist ein Gedanke, der mir hilft, etwas anderes zu begreifen. Beschädigungen, die fast alle Untertanen einer Diktatur erleiden, sind natürlich ganz besonderer Art, wenn sie von einem Oberidioten gequält werden, den sie respektierten, den sie fanatisch liebten, den viele sogar auch nach seinem Sturz in den Abgrund noch so bewundert haben wie Hitler.

Wie schön war es für Sie, nach langen Monaten des Lockdowns wieder auftreten zu können?

Ach, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe zwölf Jahre in meiner Bude in Ostberlin gesessen: das Totalverbot. Ich war deswegen ausgezeichnet darauf trainiert, nicht aufzutreten. Natürlich ist es schöner, wenn man seinem Affen Zucker geben kann. Aber davon darf die eigene Haltung zur Welt und zu den Menschen, mit denen man lebt, nicht abhängen.