Berlin. Hartz IV wird durch das Bürgergeld abgelöst. Für viele, die auf die Sozialhilfe angewiesen sind, ist die Reform eine Enttäuschung.

  • Zum neuen Jahr soll das neue Bürgergeld kommen und damit Hartz IV ablösen
  • Doch was ändert sich wirklich? Ist es nur ein anderer Name oder gibt es auch wirkliche Verbesserungen für Empfänger?
  • Die Betroffenen finden jeweils deutliche Worte für die Sozialreform

502 Euro. So viel erhalten alleinstehende Erwachsene, die bisher Anspruch auf Arbeitslosengeld II hatten, mit dem Bürgergeld ab dem neuen Jahr monatlich. Das sind 53 Euro mehr als bisher mit Hartz IV. Bei Kindern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren steigt der Betrag um 37 Euro. Nach langem Ringen hatten Bundestag und Bundesrat das Bürgergeld im November beschlossen.

Die Ampel-Koalition wollte damit eine umfassende Sozialreform durchführen – nachdem der ursprüngliche Entwurf jedoch von CDU und CSU verhindert wurde, einigte man sich auf einen Kompromiss. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) äußerte sich dennoch positiv. "Wir schaffen ein neues System weg von Hartz IV zum Bürgergeld", erklärte er. Bei Menschen, die auf die Sozialleistung angewiesen sind, hört sich das jedoch anders an. Viele sind enttäuscht von der Reform.

Die wichtigsten Punkte des Koalitionsvertrages

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    Bürgergeld: "Ein Inflationsausgleich, der nicht mal ausreichend ist"

    Wenn man Anni W. auf das Bürgergeld anspricht, wird ihre Stimme laut und energisch. "Mich macht das wirklich wütend, dass ständig über eine Erhöhung gesprochen wird. Das ist keine Erhöhung, das ist ein Inflationsausgleich, der nicht einmal ausreichend ist", sagt sie. Anni ist alleinerziehend und lebt gemeinsam mit ihrem 10-jährigen Sohn in Nordrhein-Westfalen. Seit vielen Jahren hat die 40-Jährige Depressionen, dann kam noch eine Arthrose hinzu – aktuell ist sie deshalb nicht mehr in der Lage zu arbeiten, weshalb sie auf Hartz IV angewiesen ist.

    Grundsätzlich, davon ist Anni überzeugt, werde sich vor allem für Menschen wie sie, die langzeitarbeitslos sind, durch das Bürgergeld nicht wirklich etwas ändern. "Bürgergeld ist einfach nur Bürgerhartz", findet sie. "Es gibt durchaus Veränderungen und die werden auch für die ein oder andere Person spürbar sein, aber im Allgemeinen ist das einfach nur Hartz IV im neuen Gewand."

    Anni W. ist auf Sozialleistungen angewiesen. Für sie ist der höhere Regelsatz im Bürgergeld nicht einmal ein Inflationsausgleich. „Bürgergeld ist einfach nur Bürgerhartz“, sagte sie.
    Anni W. ist auf Sozialleistungen angewiesen. Für sie ist der höhere Regelsatz im Bürgergeld nicht einmal ein Inflationsausgleich. „Bürgergeld ist einfach nur Bürgerhartz“, sagte sie. © Erwin Pottgiesser / FUNKE Foto Services

    Anstieg des Regelsatzes nicht ausreichend

    Positiv findet Anni, dass Personen, die ihr Einkommen mit der Sozialleistung aufstocken, zukünftig mehr von ihrem Gehalt bleiben soll. Auch, dass das Hauptaugenmerk auf Weiter- und Fortbildungen gelegt werden soll, sei grundsätzlich gut. Doch der Anstieg des Regelsatzes auf 502 Euro für Alleinstehende, sei absolut nicht ausreichend, sagt die 40-Jährige – nicht mal um die Grundbedürfnisse zur erfüllen: "Die 53 Euro mehr sind einfach lächerlich."

    Es gehe nicht darum, sich Luxus leisten zu können, es gehe darum, keinen Hunger haben zu müssen. "Ich missgönne Christian Lindner nicht, dass er sich eine teure Traumhochzeit auf Sylt geleistet hat. Wieso wird dann mir missgönnt, einfach nur ein bisschen besser einkaufen zu gehen?", fragt Anni.

    Auch Bürgergeld reicht kaum für gesunde Ernährung

    Genau wie Anni kann auch Nina H. aufgrund ihrer Krankheit nicht arbeiten. Eigentlich hat mittlerweile 35-Jährige eine Ausbildung zur Industriekauffrau gemacht, doch schon während der Lehre ist sie schwer psychisch erkrankt. Danach fand sie keine Anstellung, mittlerweile sind viele ihrer Erkrankungen chronisch.

    Nina lebt in Osnabrück. Sie ist verheiratet und hat einen 9 Jahre alten Sohn. Ihr Mann, der derzeit auf der Suche nach einer Ausbildung ist, ist aktuell ebenfalls auf Hartz IV angewiesen. Das Bürgergeld, sagt sie, habe sich damals im Koalitionsvertrag gut angehört. "Aber das, was jetzt rausgekommen ist, ist nur ein lauer Aufguss von Hartz IV", findet sie. "Ich habe das Gefühl, dass hier etwas eine große Reform genannt wird, was nicht einmal ein richtiges Reförmchen ist."

    Aktuell würden die Preiserhöhungen dafür sorgen, dass die Familie für nichts anderes mehr Geld ausgeben könne, als für Essen – und auch das nur noch eingeschränkt. "Früher haben wir noch versucht, uns relativ gesund zu ernähren, mittlerweile ist gesund nur noch fürs Kind. Wir Erwachsenen essen teilweise nur ein bis zwei Mahlzeiten am Tag", sagt sie. Um das zu ändern, würden auch die höheren Regelsätze nicht ausreichen.

    Sanktionen: "Jedes Mal, wenn ich zum Briefkasten gehe, habe ich Angst"

    "Ich kann dem Kind nicht mal eine neue Hose kaufen, wenn es aus der alten rausgewachsen ist. Es fehlt an allen Ecken und Enden", sagt Nina. "Momentan würde ich sagen, dass wir mit dem Bürgergeld nicht mehr am 15. des Monats sorgenvoll aufs Konto gucken, sondern vielleicht am 20. Aber es wird nicht ausreichen, um ohne Sorgen und ohne Hungergrummeln im Bauch bis zum Ende des Monats zu kommen."

    Wütend wird sie, wenn sie über die Vorurteile gegenüber Empfängerinnen und Empfängern von Sozialleistungen spricht. "Keiner von uns liegt in einer Hängematte, trinkt einen Cocktail und macht sich ein schönes Leben", sagt sie. Und niemand würde sich ein Leben mit Hartz IV oder dem Bürgergeld aussuchen. Gewünscht hätte sie sich vor allem auch, dass die Sanktionsfreiheit geblieben wäre. "Es wird immer von Augenhöhe gesprochen, aber das, was ich erlebe, ist ein Machtgefälle." Man werde im Alltag ständig von Furcht begleitet, sagte Nina. "Jedes Mal, wenn ich zum Briefkasten gehe, habe ich Angst, weil jeder Brief mindestens mit einer Drohung endet."

    Mehr zum Thema: Bürgergeld: "Keine Reform, sondern nur Update von Hartz IV"

    20 Euro gehen allein für Strompreiserhöhung drauf

    "Es ist ein neuer Name für das gleiche System", findet auch Olli H. aus Hamburg. "Die Erhöhung wird komplett von der Inflation geschluckt", sagt der 49-Jährige, der aufgrund seiner psychischen Erkrankung ebenfalls seit 11 Jahren auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Gerade erst hätte sich seine Abschlagszahlung für Strom – der nicht vom Arbeitsamt übernommen wird, sondern vom Regelsatz bezahlt werden muss – um 20 Euro erhöht. "Dadurch werde ich theoretisch etwa 30 Euro mehr haben. Theoretisch, weil die Preise für Lebensmittel sich stellenweise verdoppelt haben", sagt Olli.

    Eine gesunde Ernährung sei damit auch zukünftig nicht drin. Ebenso wenig wie gesellschaftliche Teilhabe. "Gerade für Menschen mit Depressionen bedeutet das weiterhin den Rückzug in die Einsamkeit und damit eine Verstärkung der Symptomatik", mahnt er an. Wer nicht wegen psychischer Erkrankungen auf Sozialleistungen angewiesen sei, der würde durch den Bezug krank werden.

    Bürgergeld: "Man hat den Eindruck, dass auf einen heruntergeschaut wird"

    Viele Menschen, die auf Sozialhilfen angewiesen sind, haben sich ihr Schicksal nicht ausgesucht. So wie Maria T. aus Berlin. Die Mutter von vier Kindern im Alter von sechs bis 13 Jahren musste nach der Trennung von ihrem gewalttätigen Partner Arbeitslosengeld II beantragen. Eigentlich hat die 41-Jährige als Sozialpädagogin gearbeitet, um sich um ihre Kinder zu kümmern, musste sie ihren Beruf jedoch erst einmal aufgeben.

    Als sie sich wieder auf Jobs bewerben wollte, erkrankte ihr jüngster Sohn an Epilepsie. Zum Bürgergeld sagt sie: "Das als Reform darzustellen, ist echt ein Schlag ins Gesicht. Das gleicht nicht einmal einen Teil der Inflation aus." Zwar gebe es ein paar Verbesserung für Menschen, die gerade neu in den Bezug kämen, doch für diejenigen, die schon länger auf die Sozialhilfe angewiesen wären, würde sich die Situation nur minimal verbessern.

    Durch die Preiserhöhungen sei es aktuell sowieso schwierig, über die Runden zu kommen. Maria muss auf Foodsharing und Rabatte setzen, um Lebensmittel zu besorgen. "Wenn ich ganz normal im Supermarkt einkaufen würde, würde ich meine Kinder nicht satt kriegen. Schon gar nicht gesund", sagt die vierfache Mutter. Ein wichtiger Punkt sind auch für sie die Sanktionen. "Unter den Sanktionen leiden vor allem auch die Menschen, die nie Sanktionen bekommen. Man hat einfach den Eindruck, dass auf einen herunter geguckt wird und man kein wertvoller Mensch ist", erklärt Maria.

    Armutsforscher kritisiert Bürgergeld: "Keine substanzielle Verbesserung"

    Auch von Sozialverbänden gibt es Kritik am Bürgergeld. Der paritätische Gesamtverband bezeichnete die Reform nach dem Beschluss als "absolut enttäuschend". Laut Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müssten die Bezüge für alleinstehende Erwachsene auf mindestens 725 Euro angehoben werden, um vor Armut zu schützen. Rückendeckung bekommen die Empfängerinnen und Empfängern der Sozialhilfe auch aus der Wissenschaft.

    "Nach meiner Einschätzung beinhaltet das Bürgergeld höchstens einen Inflationsausgleich, aber es bedeutet gegenüber Hartz IV keine substanzielle Verbesserung der Leistungen, die nötig gewesen wäre, wie alle Expertinnen und Experten übereinstimmend meinen", sagt etwa Armutsforscher Christoph Butterwegge. Die Bezüge hätten bisher schon ohne die Inflation hinten und vorne nicht ausgereicht, erklärt der Experte. "Auch ohne die Preiserhöhungen hätte der Regelbedarf deutlich erhöht werden müssen."

    Lesen Sie auch: Paritätischer: "Bürgergeld hält die Betroffenen in Armut"

    *Name von der Redaktion geändert

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