Antwerpen. Europa wird Zentrum des weltweiten Kokainschmuggels, Antwerpen ist das Einfallstor. Die Methoden der Drogen-Mafia alarmieren Fahnder.

Das jüngste Opfer des Drogenkrieges mitten in Europa war erst elf Jahre alt. Eine Kugel traf Firdaous ins Herz, als die Täter mit einer Kalaschnikow auf das Wohnhaus ihrer Familie in der belgischen Hafenstadt Antwerpen schossen, der Vater und zwei weitere Mädchen wurden verletzt. Die Todesschützen wollten sich im Januar wohl am Onkel von Firdaous rächen, einem schwerreichen Drogenboss mit marokkanischen Wurzeln, der in Dubai untergetaucht ist.

Brutale Gewalt unter rivalisierenden Drogengangs ist nicht ungewöhnlich in Antwerpen, fast wöchentlich kommt es zu Schießereien auf offener Straße, Brandanschlägen oder Bombenexplosionen – nur knapp 200 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Doch Firdaous Tod hat Belgien aufgerüttelt und Europas Sicherheitsexperten alarmiert.

In Brüssel ruft König Philippe zum Kampf gegen Gewaltkriminalität und Drogenkonsum auf, Antwerpens Bürgermeister Bart de Wever verlangt einen Einsatz der Armee gegen die Kokainkriminellen in seiner Stadt. EU-Innenkommissarin Ylva Johanssen warnt bei einem eiligen Besuch in Antwerpens Hafen: „Die Bedrohung der Gesellschaft durch das organisierte Verbrechen ist heute genauso groß wie die terroristische Bedrohung.“ Auch Politiker seien gefährdet, sagt sie. Der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne entging vor einigen Monaten nur knapp seiner Entführung durch eine Drogenbande und musste zweimal aus Sicherheitsgründen wochenlang abtauchen.

Drogen-Schmuggel: Antwerpen ist zu Europas Kokain-Hauptstadt geworden

Die Gewalt nimmt zu, seit Antwerpen mit seinem Hafen binnen weniger Jahre zum Haupteinfallstor für Kokain in Europa geworden ist. Das weiße Pulver kommt meist per Schiff in Containern versteckt aus Lateinamerika, vor allem aus Kolumbien über Ecuador, auch aus Bolivien und Peru. 2022 beschlagnahmten Fahnder in Antwerpen die Rekordmenge von 110 Tonnen Kokain, 40 Prozent der gesamten Sicherstellungen in Europa. Zum Vergleich: Im Hamburger Hafen wurden voriges Jahr 9,6 Tonnen Kokain entdeckt.

Zeitweise kamen die belgischen Behörden nicht mehr mit dem Vernichten der gefährlichen, illegalen Drogen hinterher, die spezielle Verbrennungsanlage ist nicht groß genug. Doch die Polizei schätzt, dass etwa 90 Prozent der Schmuggelware unentdeckt bleibt und über eine Zwischenstation in den Niederlanden in ganz Europa, teils sogar bis nach Südostasien verteilt wird.

Im Hafen von Antwerpen in Belgien hat der Zoll Pakete mit Kokain in einem Container sichergestellt.
Im Hafen von Antwerpen in Belgien hat der Zoll Pakete mit Kokain in einem Container sichergestellt. © dpa | -

Der Boom des Kokainschmuggels in die EU hat mehrere Gründe. Zum einen vergrößert eine gestiegene Kokain-Produktion in Lateinamerika das Angebot. Zum anderen verlagern die Drogen-Kartelle ihre Aktivitäten weg von den USA, wo der Verfolgungsdruck größer und der Profit geringer ist. Die EU-Drogenbehörde EMCDDA spricht deshalb von einer regelrechten Kokainschwemme in Europa. Es sei längst der weltweit wichtigste Absatzmarkt, der Konsum nehme weiter zu. Direktor Alexis Goosdeel warnt: „Ich bin zutiefst besorgt, dass der expandierende EU-Kokainmarkt zu einem Anstieg von Gewalt und Korruption führt.“

Folterkammer im Container: Der Drogenmarkt in Europa ist hart umkämpft

Internet und Mobilfunk machen den Kriminellen Absatz und Geschäftsabsprachen leichter. Dealer wickeln mit ihren Endkunden den Handel entspannt per Smartphone ab. Je leichter Kokain erhältlich sei, desto mehr werde konsumiert, so die EU-Drogenbehörde. Umso mehr verdienen die Drogen-Banden: Ein Kilo Kokain koste in Südamerika 1000 bis 2000 Euro, rechnet EU-Kommissarin Johanssen vor. „In Europa lässt es sich für 35.000 Euro weiterverkaufen“. Auf der Straße wird ein Gramm Kokain, das für mehrere Portionen reicht, schließlich für 50 Euro angeboten, macht 50 000 Euro je Kilo. Der Jahresumsatz der organisierten Kriminalität mit Drogenhandel in Europa wird auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt.

Doch der Markt ist hart umkämpft, rivalisierende Gangs liefern sich brutale Auseinandersetzungen vor allem in Belgien und den Niederlanden. Nur 25 Kilometer von Antwerpen entdeckten Fahnder auf einem Gehöft in umgebauten Schiffscontainern eine komplett eingerichtete Folterkammer, in dem ein Drogenboss Konkurrenten und Abtrünnige quälen wollte. Antwerpen bietet sich den vorwiegend marokkanischen Gangs besonders an, weil der flächenmäßig größte Hafen Europas mit 360 privaten Unternehmen schwer zu kontrollieren ist und viele Prozesse hier noch nicht automatisiert sind.

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Erst Geld, dann Druck: Die bösen Methoden der Kokain-Schmuggler

Das erleichtert die Korruption: Wenn die Drogen-Transporte ankommen, brauchen die Gangster die Hilfe bestechlicher Hafen-Beschäftigter, die ihnen sagen, wo genau die Container stehen und wie sie Zugang erhalten. Auf Parkplätzen oder in Bars der Umgebung beschatten Gangmitglieder potenzielle Bestechungs-Opfer, suchen gezielt nach privaten Schwachstellen von Hafen-Mitarbeitern, berichtet der belgische Zoll-Chef Kristian Vanderwaeren.

Möglichen Informanten werden für einen guten Hinweis schon mal 50.000 bis 60.000 Euro auf die Hand versprochen. Aber der Druck wird dann schnell größer, und er hört nicht mehr auf, ergänzt ein Ermittler. Dann legen die Gangster plötzlich Fotos auf den Tisch von der Familie des Informanten, den Kindern, Freunden – eine schlichte, oft wirkungsvolle Drohung. Im vergangenen Jahr wurden nach Regierungsangaben 135 Menschen festgenommen, weil sie den Banden im Hafen geholfen haben sollen.

Fahndungsdruck könnte Gewalt noch erhöhen

60 Prozent der organisierten kriminellen Gruppen in der Europäischen Union seien in Korruption verstrickt, warnte EU-Innenkommissarin Johansson in Antwerpen. Ende Februar reist sie nach Kolumbien und Ecuador, um mit den Sicherheitsbehörden über eine bessere Kooperation im Kampf gegen Drogenschmuggler zu verhandeln. Die belgische Regierung hat angekündigt, hundert zusätzliche Zollbeamte im Hafen einzusetzen, neue Scanner und Kameras für die biometrische Identifizierung von Personen anzuschaffen.

Große Fahndungserfolge erzielt die Polizei aber anders: Vor zwei Jahren konnten europäische Strafverfolger die Verschlüsselungssoftware Encrochat auf den Kryptohandys der Drogennetzwerke knacken, was zu hunderten Festnahmen führte. Kurz vor Weihnachten gab Europol die Verhaftung von 49 führenden Drogenkriminellen in Dubai, Belgien, Spanien und Frankreich bekannt.

Das zerschlagene „Super-Kartell“ sei für ein Drittel des Kokain-Schmuggels in Europa verantwortlich, hieß es. Belgiens Justizminister glaubt allerdings, dass gerade dieser Fahndungsdruck vorübergehend die Gewalt der Drogenbanden auch in Antwerpen erhöht: Die Gangster würden brutaler, wenn die Geschäfte gestört seien, Lieferungen fehlten und damit die Konkurrenz härter werde. Der Tod der elfjährigen Firdaous, prophezeit der Minister, werde nicht die letzte Tragödie dieser Art sein.