Berlin. Olaf Scholz will Führungsstärke zeigen. Die Pandemie ist seine erste Bewährungsprobe, so unser Politik-Korrespondent Michael Backfisch.

Die überwältigende Zustimmung von SPD und FDP zum Koalitionsvertrag unterstreicht: Olaf Scholz soll am Mittwoch mit Rückenwind ins Kanzleramt getragen werden. An hochfliegenden Versprechungen hat es bisher nicht gemangelt. SPD, Grüne und FDP haben mit dem Regierungsmotto „Mehr Fortschritt wagen“ eine große Reformfanfare ertönen lassen. Sie wollen das Land aus dem Zustand des permanenten Krisenmanagements unter Angela Merkel (Finanzkrise, Griechenlandkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise) reißen. Und Scholz selbst hat immer wieder den Sound des Machers verbreitet: „Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt.“

Führung ist das Wort der Stunde. Allerdings werden von der Politik derzeit nicht pompöse Projekte verlangt, es kommt auf handfeste Krisenbewältigung an. Die Regierungstauglichkeit von Rot-Grün-Gelb entscheidet sich zuallererst an den Resultaten im Kampf gegen die Pandemie.

Ampel startet mit schwerer Corona-Hypothek

Die Koalition startet mit einer schweren Corona-Hypothek. Denn keine Partei – weder innerhalb der Ampel noch außerhalb – hat sich hier mit Ruhm bekleckert. Die deutsche Politik war mit ihrem Hü-Hott-Kurs aus Lockerung und Lockdown stets hinter der Welle. Die scheidende Kanzlerin hatte mit dem analytischen Blick der gelernten Physikerin für mehr Einschränkungen plädiert, konnte sich aber im Föderalismus-Dickicht zwischen Bund und Ländern nicht durchsetzen.

Vor allem die FDP wollte sich als Bannerträgerin der Freiheit profilieren, lehnte schärfere Maßnahmen ab und träumte gar von einem „Freedom Day“ im Stil des britischen Premiers Boris Johnson. Doch angesichts nach oben schießender Infektionszahlen und der Notlage auf den Intensivstationen legten die Liberalen – aber nicht nur sie – eine 180-Grad-Wende hin.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent.
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

Die Politik hat begriffen, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung gedreht hat. Mit Blick auf die neue Virusvariante Omikron stehen nun Wachsamkeit und Vorsicht im Vordergrund. Ungeimpfte müssen deutliche Einschränkungen hinnehmen. Ein erster wichtiger Test für die Ampel ist die Bundestagsabstimmung über eine allgemeine Impfpflicht. Bei diesem Thema muss Scholz zeigen, dass er führen und eine Mehrheit hinter sich scharen kann.

SPD als Wahrer der sozialen Gerechtigkeit

In der Konzeption des Koalitionsvertrags war der Sozialdemokrat ein starker Moderator. Scholz betrachtet den Meinungsbildungsprozess in der Ampel nicht als These und Antithese, sondern als Synthese, in der sich die Gegensätze aufheben. Die Grünenpartei kann als Vorantreiber der Klimapolitik auftreten, die FDP als Garant der Haushaltsstabilität, die SPD als Wahrer der sozialen Gerechtigkeit.

Die bemerkenswerte Disziplin der Ampel-Parteien liegt auch an ihren traumatischen Erfahrungen. Die SPD will sich endlich aus der tödlichen Umarmung der GroKo-Kanzlerin befreien. Die Grünen wittern nach dem Ende der rot-grünen Ära 2005 und den langen Jahren auf den Oppositionsbänken wieder Morgenluft. Die FDP drängt es nach den im März 2017 geplatzten Jamaika-Gesprächen mit Macht ins Kabinett. Parteichef Christian Lindner verfolgt zudem einen strategischen Plan: Ihm schwebt vor, die Liberalen als Kraft der Mitte zu positionieren und im Wählerreservoir der verunsicherten Union zu fischen.

Hinter dem Koalitions-Label „Mehr Fortschritt wagen“ stecken kühne Absichten. Wie weit sie tragen, bemisst sich aber zunächst an den Erfolgen oder Misserfolgen im Kampf gegen die Pandemie. Oder, um es mit den nüchternen Angelsachsen zu sagen: „The proof of the pudding is in the eating“ – „Probieren geht über Studieren.“ Die Praxis zählt.