Berlin. Das Kanzler-Machtwort zu den AKW-Laufzeiten hat erst einmal für Ruhe gesorgt. Doch das Thema könnte die Koalition weiter beschäftigen.

Nach dem Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Laufzeit der verbliebenen Atomkraftwerke ist zwar der akute Streit zwischen FDP-Chef Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck beendet – die Koalition aber bleibt in schwerer See. Wie lange hält der verordnete Frieden? Hat Scholz am Ende nur für eine vermeintliche Lösung des Streits gesorgt, weil er Teile der Grünen-Bundestagsfraktion nachhaltig verärgert? Sicher ist, dass das Ampel-Bündnis einen ungewöhnlichen Moment erlebt.

Olaf Scholz: Was genau hat er am Montag getan?

Der Kanzler hat den wochenlangen Streit zwischen FDP und Grünen um die Laufzeiten der drei letzten deutschen AKW beendet, indem er die Macht seines Amtes genutzt hat. Dabei beruft sich Scholz auf Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung und somit auf die im Grundgesetz festgeschriebene Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Demnach bestimmt der Kanzler „die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern „entscheidet die Bundesregierung“, heißt es in Artikel 65 des Grundgesetzes.

Richtlinienkompetenz: Was ist das?

Die Richtlinienkompetenz ist das schärfste Schwert, das ein Kanzler zur Lösung eines Konflikts innerhalb der Regierung hat. Es wird in der Praxis äußerst selten gezogen. Scholz‘ Vorgängerin Angela Merkel (CDU) nutzte dieses Instrument in 16 Jahren im Jahr 2016 in der Frage, ob eine strafrechtliche Ermittlung gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten zugelassen werde. Auf Basis dieser Entscheidung waren Ermittlungen gegen den deutschen Satiriker möglich. Zudem drohte sie im Streit um die Asylpolitik der Bundesregierung der CSU damit, ihre Richtlinienkompetenz in Anspruch zu nehmen.

Das Atomkraftwerk Isar 2 soll wie zwei weitere AKW bis Mitte April weiterlaufen.
Das Atomkraftwerk Isar 2 soll wie zwei weitere AKW bis Mitte April weiterlaufen. © dpa | Armin Weigel

Olaf Scholz: Pflegt er einen anderen Regierungsstil als Angela Merkel?

Auch der SPD-Politiker ist sehr auf Ausgleich in der Regierung bedacht. Für Scholz ist der Schritt bemerkenswert, da er seine Rolle als Chef der Ampel-Koalition ausdrücklich mit einem anderen Anspruch angetreten hatte. Im Koalitionsvertrag von SPD, FDP und Grünen heißt es: „Im Kabinett werden Entscheidungen einvernehmlich getroffen, kein Koalitionspartner wird überstimmt.“ Und in seiner Sommerpressekonferenz hatte Scholz zur Richtlinienkompetenz noch gesagt: „Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende.“ Genauso ist es aber nun gekommen.

Robert Habeck und Christian Lindner: Wurden sie überrascht?

Das ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass das Machtwort eher ein taktisches Manöver war: Lindner und Habeck hatten sich mehrfach eng mit Scholz beraten. Möglicherweise war das nach Außen als Machtwort dargestellte Einschreiten des Kanzlers ein abgesprochener Kompromiss, mit dem auch Habeck und Lindner leben können. Schließlich erlaubt dieser ihnen, offiziell nicht von ihren Positionen abgerückt zu sein. Die Bundestagsfraktionen überrumpelte Scholz mit der Ankündigung jedoch. Das erinnert an die Sondersitzung des Bundestags nach Kriegsbeginn in der Ukraine, als Scholz überraschend die Modernisierung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro ankündigte.

Der Kanzler: Was sagt der Vorgang über Scholz’ Stellung aus?

Unterstützer des Kanzlers sehen darin einen Beleg, dass sein Ausspruch „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“ keine leere Worthülse ist. Kritiker interpretieren den Rückgriff auf die Richtlinienkompetenz nach nur zehn Monaten im Amt hingegen als Zeichen der Schwäche, da der Kanzler den Streit um die Laufzeiten nicht schon viel früher beigelegt hat – ohne zu so einer drastischen Maßnahme zu greifen. Zumal er nun die ganze Wucht seiner Autorität für einen Beschluss genutzt hat, der in seiner Tragweite begrenzt sein dürfte.

Ist die Stellung von Kanzler Olaf Scholz nach dem AKW-Machtwort gestärkt?
Ist die Stellung von Kanzler Olaf Scholz nach dem AKW-Machtwort gestärkt? © dpa | Kay Nietfeld

AKW: Wie soll die Atomfrage jetzt geregelt werden?

Ursprünglich sollten die drei letzten AKW zum Jahresende vom Netz gehen. Aufgrund der aktuellen Energiekrise wollte Wirtschaftsminister Habeck die Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis Mitte April weiter nutzen. Das war der FDP zu wenig: Sie forderte, dass alle drei AKW am Netz bleiben – und zwar längerfristig. Scholz verlangt nun eine gesetzliche Grundlage dafür, dass neben den beiden süddeutschen Kraftwerken auch der Meiler Emsland in Niedersachsen bis Mitte April laufen kann.

Die Grünen: Gibt es einen klaren Verlierer?

Nein. Scholz‘ Machtwort ist am Ende ein klassischer Kompromiss: Die Grünen müssen schlucken, dass ein AKW mehr als geplant am Netz bleibt. Die FDP muss akzeptieren, dass es keine Laufzeitverlängerung über den 15. April 2023 hinaus geben soll.

Wie reagieren Habecks und Lindners Fraktionen?

Johannes Vogel, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion nannte die Entscheidung „eine sehr gute Nachricht“. Unter den FDP-Abgeordneten herrsche große Zufriedenheit. Der Tenor: Es wäre sicher nicht gut, jede strittige Frage mit einem Machtwort zu entscheiden, aber in diesem Fall zählt für die FDP das Ergebnis.

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Die Grünen dagegen, die zusehen mussten, dass ihre gerade erst beim Parteitag festgelegte rote Linie von Scholz überschritten wurde, taten sich schwerer: Die Grünen-Fraktionsführung werde der Fraktion empfehlen, dem „Vorschlag“ zu folgen, erklärte Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Es gehe darum, eine Kontroverse nach einer verhärteten Lage abzuschließen. Haßelmann machte gleichzeitig aber auch deutlich, dass sich ihre Fraktion nicht an die Richtlinienkompetenz des Kanzlers gebunden fühle. In der Sache haben die Grünen weiter massive Zweifel.

Was sagen die Grünen in Niedersachsen?

Hier gibt es massiven Ärger: „Dass Olaf Scholz die Richtlinienkompetenz für einen befristeten Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Emsland gezogen hat, ist unnötig und ohne fachliche Grundlage“, erklärten die Grünen-Politiker Julia Willie Hamburg und Christian Meyer. Der Ausbau und die Nutzung der erneuerbaren Energien würden so blockiert. Die zusätzliche Strommenge des Atomkraftwerks Emsland sei minimal.

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, nannte den Kompromiss dagegen „klug“. Alle Kraft müsse jetzt auf den Ausbau der Erneuerbaren Energien und den Netzausbau gerichtet werden, sagte Müller dieser Redaktion.

Ampel-Koalition: Ist der Streit damit beendet?

Die nötigen Gesetzesänderungen sollen so schnell wie möglich durch Bundestag und Bundesrat gehen. Ob der AKW-Streit damit auf Dauer beigelegt ist, bleibt vorerst offen: Die FDP blickt bereits besorgt über den aktuellen Winter hinaus: „Auch für den Winter 2023/2024 werden wir gemeinsam tragfähige Lösungen erarbeiten“, schrieb Lindner auf Twitter.

Gut möglich, dass die FDP das Thema Atomstrom beizeiten auf den Koalitionstisch legt. Scholz betonte allerdings, mit seiner Entscheidung sei „klar“, dass es beim Atomausstieg bleibe: „Am 15. April ist mit den Atomkraftwerken in Deutschland Schluss.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.