Berlin . Die Truppe ist hilfreich, aber kann sie auch kämpfen? Wehrbeauftragte Högl rät zur Rückbesinnung auf den Kernauftrag: Verteidigung.

In der Corona-Pandemie war die Bundeswehr ein guter Samariter und in der Flutkatastrophe wie ein Technisches Hilfswerk. Damit soll bald Schluss sein, fordert die Wehrbeauftragte Eva Högl. Die Truppe brauche jede Soldatin, jeden Soldaten, heißt es im Wehrbericht 2021, den Högl heute in Berlin vorgestellt hat. "Die Amtshilfe ist und darf kein Dauerzustand sein."

Wladimir Putins Krieg stelle nicht nur die territoriale und politische Souveränität der Ukraine in Frage, so Högl. "Er ist auch die größte Bedrohung für die europäische Friedensarchitektur und unsere eigene Sicherheit seit Ende des Kalten Krieges." Zurück zu den Wurzeln, zum Kernauftrag, Konzentration auf die Bündnis- und Landesverteidigung. Das ist Högls Rat. Schon in der Vergangenheit hatte sie überdies eine Diskussion über die Wehrpflicht entfacht.

Högls Mängelliste: "Train as you fight" – von wegen

Zur Verteidiung sind die Streitkräfte nur bedingt fähig. Die Wehrbeauftragte stellte nicht nur eine materielle Mängelliste auf, sondern auch der Ausbildung kein gutes Zeugnis aus. Vom Anspruch "Train as you fight" sei die Bundeswehr "immer noch weit entfernt", bedauert sie.

Wenn die Truppe mal doch gefechtsmäßig übt wie eine Gruppe von Fallspringern am 11. Mai 2021, dann wird es bitter. Gleich neun Soldaten verletzen sich leicht bis mittelschwer. Als Ursache wird nicht zuletzt die Sinkgeschwindigkeit ausgemacht: "Aufgrund höheren Gesamtgewichts, wegen veränderter Schutzausrüstung."

Högel: Drei Zäsuren in nur zwei Jahren

Unverständlich sei, dass die Bundeswehr alte Fallschirmsysteme nicht zügiger austauschte, "nachdem sich die Anforderungen wegen des höheren Gewichts verändert haben", moniert Högl. Einen guten Monat später bewilligt der Haushaltsausschuss die Bestellung 1.162 Fallschirmen.

Bundeswehr ist Frauensache: Wehrbeauftragte Eva Högl (l.) und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.
Bundeswehr ist Frauensache: Wehrbeauftragte Eva Högl (l.) und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.

Seit knapp zwei Jahren ist die Sozialdemokratin im Amt. Sie war keine Fachpolitikerin, für die Aufgabe drängte sich Högl nicht auf. Die Realität bescherte ihr ein Crash-Kurs mit drei Zäsuren – Corona, Abzug aus Afghanistan, Ukraine-Krieg – und jede Menge Skandale, zum Beispiel Munitionsdiebstahl und rechtsextreme Verdachtsfälle ausgerechnet bei den Elitekämpfern, beim Kommando Spezialkräfte. Wenn Högl vorher keine Fachfrau war – jetzt ist sie es.

Am Geld sollte es jetzt nicht scheitern

Einiges im 63. Wehrbericht klingt wie ein Echo aus vergangenen Zeiten, obwohl es nur ein paar Monate her ist: etwa der Afghanistan-Abzug. Anderes stimmt zwar formal für Högls Berichtsjahr 2021, ist jedoch binnen Wochen obsolet geworden. Das gilt für die Aufforderungen, das Verteidigungsbudget zu erhöhen und über die Tornado-Nachfolge zu entscheiden – beides längst erledigt.

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Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner historischen Rede im Bundestag nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs 100 Milliarden Euro an Soforthilfe und eine Steigerung des Etats auf über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zusagte, so sind die Probleme mit Geld allein noch lange nicht gelöst.

An der Bürokratie könnte die Beschaffung scheitern

Ein Beispiel für den Amtsschimmel im Beschaffungswesen: Das Militärische Nachrichtenwesen beantragte ein Tätigkeitsabzeichen. Die "Bundeswehr Bekleidungsmanagement GmbH" erwiderte, das finde sich nicht im Nummernverzeichnis. Keine Artikelstammdatennummer, also auch keine Beschaffung. Am Ende zog es sich zwei Jahre hin, bis das Tätigkeitsabzeichen beschafft wurde. Wie soll das erst bei wirklich komplexen Beschaffungen werden?

"Sehr bestürzt" war Högl nach eigenen Worten ob der vielen Klagen über "materielle Defizite". Sie machen einen relevanten Teil der 2.606 Eingaben von Soldaten im Jahr 2021. "Desolat" sei auch der Zustand von Unterkünften, Sanitäreinrichtungen, Truppenküchen und Sportplätzen, hält Högl fest.

Gebirgsjäger warten auf Skimodelle

Bei den Hauptwaffensystemen mahnt Högl mit wachsender Ungeduld vor allem eine Nachfolge für den Hubschrauber CH-53 an. Mit dem fliegt die Bundeswehr seit 1972. Seit 50 Jahren.

Nach der Lektüre von Högls Bericht wird auch klar, warum Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) die Lieferung von 5.000 Helmen an die Ukraine so hervorgehoben hat. Zitat aus dem Wehrbericht: "Nach wir vor problematisch ist die flächendeckende Ausstattung mit dem Gefechtshelm". Die stehe eben noch aus.

Dem Gebirgsjägerbataillon 231 in Bad Reichenhall ergeht es so ähnlich wie den Fallschirmspringern: Es fehlen die Basissache. Die Soldaten warten auf ein neues Skimodell. 2023 soll es so weit sein.

Frauen: 20 Jahre Dienst an der Waffe

Natürlich fehlen nicht die Klassiker eines Wehrberichts. Bekiffte und betrunkene Soldaten, Schmähungen, Mobbing, Extremismus, sexuelle Übergriffe, wüste Beschimpfungen, überzogene Härte. Bei einer Übung bei Minustemperaturen kam es zu Erfrierungen dritten Grades bei einem Soldaten. Und weil ein Gefreiter während der Wachausbildung lachte, hielt ihm sein Ausbilder eine Pistole fünf Sekunden vor den Kopf: "Ist das jetzt noch lustig?"

Definitiv nicht. Aber auch nicht mehr typisch. Es sind eher Einzelfälle. Schon eher strukturbedingt ist, dass Frauen in der Bundeswehr nicht vorankommen. Das ist ein Schwerpunkt im Bericht. Kein Zufall, nicht bei einer Wehrbeauftragten und vor allem nicht im Berichtsjahr 2021. Denn da jährte sich zum 20sten Mal, dass Frauen Dienst an der Waffe leisten dürfen.

Frauen – nur gut im Sanitätsdienst?

In der Bundeswehr gibt es zwar 23.606 Soldatinnen (Truppenstärke: über 183.000), aber die meisten sind im Sanitätsdienst. Dort beträgt der Frauenanteil 45,46 Prozent, in anderen Truppenteilen liegt er unter zehn Prozent.

Außerhalb des Sanitätsdienstes gibt es keinen weiblichen General. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Nach der Studie "Truppenbild mit General (w)" ist damit frühestens 2027/28 zu rechnen.

Högl macht einen Gender-Bias aus: Unbewusste Bewertungen, die auf geschlechtsspezifischen Stereotypen basieren. Während die Chancengerechtigkeit nach 20 Jahren zu wünschen übrig lässt, ist man ersatzweise auf anderen Feldern weiter gekommen, zum Beispiel bei der gendergerechten Sprache. Die Einsatzverpflegung heißt nicht länger "Einmannpackung" – sondern "Einpersonenpackung".

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt