Hajo Schumacher hat in seiner letzten Netzentdecker-Kolumne einen Wunsch und eine Vision für die Zukunft.

Weihnachten, Zeit des Wünschens.

Ich wünsche mir ein digitales Deutschland, das Technologie von monopolistischer Nutzung trennt, das Ökonomie und Menschlichkeit, KI und Ökologie integriert,

ein Land, das seinen beträchtlichen Ehrgeiz verwendet, das modernste, effizienteste, liebenswerteste, grünste, sozialste und fairste Land der Erde zu werden,

ein Land, dessen Erfolg sich daran bemisst, dass Menschen aus aller Welt unbedingt mal schauen wollen, wie diese Deutschen das nun wieder hingekriegt haben.

Ich wünsche mir eine Heimat, deren große Erzählung hinausweist über die platte Aufholjagd oder die ewige Marktführerschaft. Und ich wünsche mir Bürger, die höhere Ziele haben als die nächste Schnäppchenreise.

Mit der Digitalisierung verhält es sich wie mit vielen revolutionären Neuerungen, ob Dampfmaschine, Auto oder Atomkraft: Eines Tages verfliegt die Begeisterung, Nebenwirkungen werden sichtbar, Menschen verlangen Schutz und Regeln.

Hier kommt Deutschland ins Spiel. Schutz und Regeln können wir gut. Die Marktlücke der Zukunft: Digitalisierung mit Demokratie zu versöhnen, die soziale Marktwirtschaft um das Ökologische und das Digitale erweitern. Kluge neue Bildung erfinden, Grundgesetz und Überwachungsdrang harmonisieren.

Und wie integrieren wir das Ich, das Wir, das Alle?

Die Corona-Krise war Stresstest und Standortbestimmung zugleich: Wer sind wir? Wo wollen wir hin? Was ist uns wichtig? Was nützt uns? Was fehlt? Was kann weg?

Der kleine Himalaya-Staat Bhutan ist bekannt für seine eigene Weise, den Erfolg von Politik zu bestimmen. Die Qualität des monarchischen Regierens bemisst sich am Wohlbefinden der Bürger.

Brutal ehrliche Frage: Geht es dir 2021 besser als 2020? Das Statistisch-Ökonomische ist ein Baustein, aber eben nicht Zentralwert. Denn was wissen wir über die Stimmung im Lande, wenn ein Millionär und ein Habenichts statistisch beide je 500.000 Euro besitzen?

Eben. Auch in westlichen Volkswirtschaften steigt die Sehnsucht nach Sinn, Nähe und Gerechtigkeit. Gewerkschaften verhandeln längst nicht mehr nur über Löhne, sondern auch über mehr freie Zeit. Ein gelingendes Leben braucht weder zwei sinnlos große Autos noch 12-Stunden-Schichten im Lieferdienst.

Meine Vision: Deutschland verständigt sich auf seine eigene Bhutan-Strategie.

Bei jeder politischen Entscheidung wird fortan gefragt:

  • Wird das Wohlbefinden des Einzelnen und der Gemeinschaft gefördert?
  • Dient dieses Gesetz, jene Verordnung unseren Werten und Zielen, dem Zusammenhalt in der EU oder der Maßgabe, dass kein Kind ohne Schulabschluss ins Leben geschubst wird?
  • Welche digitale Lösung ist hilfreich auf diesem Weg, welche führt in die Irre?

Sollten sich Hinweise verdichten, dass massenhafter Konsum sozialer Medien die Menschen dumm und wirr macht, dann muss der Gebrauch, wie bei anderen Sucht- und Genussstoffen auch, limitiert werden.

Diese Bhutan-Strategie dreht sich nicht nur um Kennzahlen, sondern hat fundamentale Fragen im Blick:

  • Sind unsere Errungenschaften bedroht?
  • Welche Unternehmen verhalten sich unsolidarisch, weil sie ihre Steuern nicht dort zahlen, wo die Gewinne gemacht werden?
  • Wo wachsen Monopole heran?
  • Wie erhalten wir unsere Stärken, etwa Vielfalt, ob in der Kultur, in den Fußgängerzonen oder in den Köpfen?
  • Welche Bildung bietet unseren Kindern eine schlaue Mischung aus Analogem und Digitalem?
  • Und wie soll ein unabhängiges Mediensystem aussehen, das dem Zusammenhalt dient und nicht als Bühne für Hass und Manipulation?
  • Ist Tempo wirklich ein Wert an sich?
  • Sind Menschen wirklich nur Konsumenten?

Wie wollen wir wirklich leben?

Mit dieser Frage lasse ich Sie jetzt allein.

Nach zwei Jahren „Netzentdecker“ endet das Projekt und damit auch meine Kolumne. Es hat mir viel Freude gemacht, vor allem der rege Austausch. Wir sehen, hören oder mailen uns.

https://www.hajoschumacher.de