Altenburg. Mit einem fulminanten Opernspektakel verabschiedet sich das Theater Altenburg in die Sanierungspause bis 2021.

Matrosen reichen Rettungswesten aus und treiben die Zuschauer – „Frauen und Kinder zuerst!“ – durch die Gänge des Altenburger Landestheaters. Treppauf, treppab führt der Weg. Unter dem Dach schreien und flehen Kinder. Weiter unten versuchen Männer Gittertüren zu öffnen. Irgendwo dazwischen sprudelt eine Sprinkleranlage. Eine Gruppe aus der dritten Klasse vermag nur noch zu beten. Man möchte verweilen, aber die Matrosen drängen zur Eile. Und plötzlich spuckt einen das Landestheater unerwartet im Hof wieder aus. Nach diesem alptraumhaften Geisterbahnritt muss man sich draußen erst einmal orientieren, bis man begreift, dass der Seiteneingang mit einer großen Bühne überbaut worden ist, die die Titanic kurz vor dem Versinken darstellt. Davor ein bewegliches Rettungsboot, in das vornehmlich die Damen der ersten Klasse steigen.

Miriam Zubieta und Alejandro Lárraga Schleske als Ehepaar Astor.
Miriam Zubieta und Alejandro Lárraga Schleske als Ehepaar Astor.

Regisseur Martin Schüler lässt das Opernspektakel „Untergang der Titanic“ in einem fulminanten Gänsehautfinale gipfeln. Nachdem das Rettungsboot durch die Zuschauermenge geschoben wurde, stimmen die Damen und Herren des Opernchores ihre Wehklage „So tief gesunken, tot und ertrunken“ an und schreiten ebenfalls durch die Menge. Es ist der ergreifende Endpunkt eines großen Abends, der die Premierengäste am Freitagabend überwältigt zurücklässt.

Bevor das Landestheater für anderthalb Jahre wegen Sanierungsarbeiten schließt, hat das Theater Altenburg-Gera damit noch einmal einen Glanzpunkt gesetzt. Das ganze Haus wird bei dieser „Großen Oper mit Salonorchester“ bespielt, wie vom Komponisten Wilhelm Dieter Siebert bereits in den Siebzigern angedacht. Rund 120 Darsteller wirken mit: Sänger, Opernchor, Philharmonisches Orchester, Kinder- und Jugendchor, Philharmonischer Chor Gera, Bürgerchor Altenburg, Statisten sowie der Schauspieler Bruno Beeke. ­Beeke spielt den Gesellschaftsreporter Frank Holloway wunderbar widersprüchlich – schwankend zwischen investigativ und gewissenlos, der sich letztlich doch vom Geld der Reederei korrumpieren lässt.

Publikum spielt die Passagiere der zweiten Klasse

Auch die Zuschauer spielen mit, sie verkörpern die Passagiere der zweiten Klasse. Das Theater wird zur Titanic, dem größten Schiff seiner Zeit, das von 163 Heizern mit Kohle gefüttert werden musste.

Bevor die Fahrt am Freitagabend losgeht, versammelt man sich an den Gangways vor dem Theater. Einfache Leute aus der dritten Klasse (unter anderem der Opernchor) drängeln sich an den Zugängen, werden aber schroff von Matrosen zurückgetrieben. Die erste Klasse hat den Vortritt, ist aber noch nicht in Sicht. Die Zeit vertreiben sich die armen Schlucker mit Tanz und Volksliedern wie „Muss i denn zum Städtele hinaus“. Irgendwann erscheinen die Kutschen mit den Millionären, die die Jungfernfahrt der als unsinkbar geltenden Titanic nach New York miterleben wollen. Nach der Schiffstaufe darf das Theaterschiff endlich betreten werden.

Das Publikum beziehungsweise die Passagiere der zweiten Klasse nehmen auf der Bühne Platz mit Blick in den prächtigen Altenburger Zuschauersaal. Dort sitzt das Salonochester, rechts im Rang liegt die Funkzentrale, in der Mitte die Kommandobrücke und links die sündhaft teure Kabine des Unternehmers Astor (Alejandro Lárraga Schleske). Der will durch miese Tricks den Aktienkurs der Reederei der Titanic erschüttern, um die White Star Line zu übernehmen. Star-Line-Präsident Ismay (János Ocsovai) erfährt von den Machenschaften und setzt seinerseits Kapitän Smith (Ulrich Burdack) unter Druck, die Titanic durch Eisberggebiete zu steuern, um nicht mit Verspätung in New York einzutreffen. Er ist überzeugt, nur so könne er den Ruf seines Unternehmens retten.

Zuschauersaal gibt eine perfekte Titanic-Kulisse ab

Unterdessen geben sich die Reichen und Schönen an Bord dem Müßiggang hin. Mrs. Molly (Anne Preuß) flirtet mit Mr. Guggenheim (Kai Wefer). Der ist nicht sonderlich interessiert, beschreibt lieber die Vorzüge der abstrakten Malerei und atonalen Musik in wunderbaren Zwölftonklängen. Ein hübscher Gag! Obendrein lästert Guggenheim über die Malkünste von Astors junger, schöner Frau Madeleine. Wobei Sopranistin Miriam Zubieta am Premierenabend die Rolle der Madeleine krankheitsbedingt nur Playback singen kann; die Stimme leiht ihr Christina Bernhardt, die kurzfristig einspringt.

Altenburgs eleganter Zuschauersaal gibt eine perfekte Titanic-Kulisse ab (Bühne: Gundula Martin). Und auch die aufwendigen Kostüme (Hilke Lakonen) tragen zur überwältigenden Opulenz dieses Gesamtkunstwerkes bei.

Der Star des Abends ist freilich das Ensemble, von den wunderbar affektiert und antiquiert agierenden Sängern über das bestens aufgelegte Orchester unter der Leitung von Thomas Wicklein bis hin zu den Statisten, die – ob Matrose oder Passagier – es verstehen, den Zuschauer in eine längst vergangene Zeit zu entführen. Wahrhaft großes Kino in Altenburg. Pardon! Große Oper!