Rudolstadt. Ein Erich-Kästner-Abend macht aus dem „Schminkkasten“ am Theater Rudolstadt ein literarisches Cabaret aus Berliner Tagen der Moderne.

„Der Kleine Mann“, dichtete Kästner, „das ist ein Mann, mit dem Man alles machen kann.“ Man kann, sehen wir in Rudolstadt, sogar drei Frauen aus ihm machen: von denen eine allein zehn Frauen sein möchte, um das Leben zu fassen, aber keine zu „Sogenannten Klassefrauen“ zählen mag, die nach der Mode gehen. Sie wirken wie aus der Zeit gefallen (und aus der Geschlechterrolle), um die Welt wie von außen zu betrachten. Moderner geht’s nicht.

Dabei, ihre Texte sind im Grunde wie ihre Klamotten: von vorgestern. Trenchcoat mit Hut. Unter diesem tauchen Zweireiher mit Nadelstreifen, unter jenem zurückgekämmt-pomadiges Haar auf. Im zweiten Teil tragen sie rote Lippen und wasserstoffblonde Perücken, als erlaubten sich die Erinnyen den Spaß dreifacher Marlene-Dietrich-Inkarnation. Rachegöttinnen auf Ironie-Feldzug gegen die Zeit. Und: „So groß wie heute war die Zeit noch nie. Sie passt nicht in die Zeit, so groß ist sie.“

Dergleichen ist zwar, wie gesagt, recht alt, aber keineswegs überaltert. Aus dem Gestern wehen uns das Heute und Morgen an. Erich Kästner ist schuld: vor 120 Jahren geboren, vor 45 Jahren gestorben, immer noch nicht tot. Aus seinen Gedichten, Balladen, Liedern zimmern Regisseur Alexander Stillmark (78) und Bühnenbildner Volker Pfüller (80) mit ihren Schauspielerinnen den Abend „Leben ist immer lebensgefährlich“, der die Gegenwart erinnert. Er zelebriert Literatur der großen Stadt auf kleinem Brett. Der „Schminkkasten“ am Theater Rudolstadt wird zum literarischen Cabaret aus Berliner Tagen der Moderne; es ist wie ein Keller, in den man zum Lachen gehen muss, wenn einem zum Heulen zumute ist.

Hier treten auf: Anne Kies, die Suchende, Verena Blankenburg, die Staunende, Ute Schmidt, die Sehende. Gemeinsam oder auch alleine dringen sie zur Finsternis menschlicher Abgründe vor – die politischen und die privaten – mit dem einzigen Ziel, uns heimzuleuchten. Da liest die Kies den Handelsteil der Zeitung wie Liebeslyrik, während die Blankenburg eine Liebe geschäftsmäßig beendet („Sachliche Romanze“). Die Schmidt betrachtet als trunkene Bardame ihr kleines Leben ziemlich nüchtern und gerät bei „Zehn Frauen“ in einen Sehnsuchtsrausch.

Doch dieser Abend ist nicht allein „der Therapie des Privatlebens gewidmet“, wie Kästner seiner 1936 in der Schweiz erschienenen lyrischen Hausapotheke voranstellte, die hier sehr, aber längst nicht ausschließlich zum Tragen kommt. Er wohnte drei Jahre zuvor der Verbrennung auch seiner Bücher bei, als sie riefen: „Wir übergeben der Flamme die Schriften von . . .“ Und blieb sodann im Land.

In Rudolstadt übergeben sie seinen Schriften ihre Flammen; sie flackern, lodern und schlagen Funken fürs heiter-melancholische Leben trotz alledem. Sie singen zur Musik und zum Piano Thomas Voigts brüchig und gebrochen. Doch stolpern sie nicht darüber, sie stürzen sich hinein. Sie unterlaufen und überhöhen ihre Texte mit einem Subtext, der den Widerspruch feiert. So folgen sie Kästner leitmotivisch: „Wenn ich die Wahrheit sagen sollte, müsst’ ich lügen.“

Nächste Vorstellungen: heute sowie am 26. und 27. Oktober.