Karlsruhe. Wer wird behandelt, wenn in Kliniken kein Platz mehr ist? Das Verfassungsgericht verpflichtet den Gesetzgeber nun zu Triage-Regelungen.

Welchen Corona-Patienten wird geholfen, wenn nicht mehr genug Intensivbetten und Personal für alle da sind? Dazu hat das Bundesverfassungsgericht vor Weihnachten eine Entscheidung getroffen, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Geklagt hatten mehrere Menschen mit schweren Behinderungen, schon im Jahr 2020. Sie befürchteten, wegen ihrer Behinderungen im Notfall benachteiligt zu werden. Was das Gericht entscheiden hat und wie es jetzt weitergeht – die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Was ist Triage?

Der Begriff Triage – abgeleitet vom französischen Verb "trier" für "sortieren" oder "aussortieren" – kommt ursprünglich aus der Kriegsmedizin, wo auf dem Schlachtfeld schnell entschieden werden musste, welchen Verwundeten mit den eingeschränkten Mitteln medizinisch geholfen wurde. Heute wird der Begriff angewendet auf alle Situationen, in denen mit begrenzten medizinischen Kapazitäten einer großen Zahl von Menschen geholfen werden muss und in denen deshalb eine Auswahl nötig ist, zum Beispiel nach Naturkatastrophen oder Anschlägen.

Auch sehr hohe Corona-Infektionszahlen können dazu führen, dass Ärzte und Ärztinnen auswählen müssen, wen sie noch retten können – und wen nicht. Eine allgemeine Definition, wonach in diesem Fall entschieden werden soll, gibt es nicht, nur eine Leitlinie der Fachgesellschaften von Intensiv- und Notfallmedizinern.

Angesichts der Kriterien, die dort angelegt werden, haben viele Menschen mit Behinderungen Sorge, dass sie in einer Triage-Situation benachteiligt werden könnten. Neun von ihnen hatten deshalb Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?

Das Bundesverfassungsgericht gibt den Klägerinnen und Klägern Recht: Es gebe Anhaltspunkte, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts, dass für die Beschwerdeführenden ein Risiko besteht, in Triage-Situationen "aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden".

Die Empfehlungen der intensivmedizinischen Fachgesellschaften würden zwar ausdrücklich klarstellen, dass nicht auf Grundlage von Grunderkrankungen und Behinderungen entschieden werden soll. Doch es sei nicht auszuschließen, "dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird".

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Mit anderen Worten: Vorurteile und mangelndes Wissen unter Medizinerinnen und Medizinern über die Lebenssituation und den Gesundheitszustand von Menschen mit Behinderungen könnten dazu führen, dass diese in der konkreten Entscheidungssituation benachteiligt werden und auf lebensrettende Behandlung verzichtet wird.

Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Fachgesellschaften seien rechtlich nicht verbindlich und "kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht". Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".

Der Gesetzgeber ist nach Auffassung des Gerichts deshalb verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen, dass das nicht geschieht. Das hat er bislang aber nicht getan und muss es jetzt nachholen.

Was muss jetzt passieren?

Der Gesetzgeber, also der Bundestag, muss jetzt „unverzüglich“ handeln, heißt es in der Entscheidung des Gerichts. Die Abgeordneten sollen eine gesetzliche Basis für die Entscheidungen schaffen, die Ärzte und Ärztinnen im Notfall treffen müssen. Konkrete Vorgaben machte das Gericht nicht.

„Zu dieser im Einzelfall sehr schwierigen Frage werden wir als Bundestag zeitnah die unterschiedlichsten Experten anhören müssen, um Regelungen zu treffen, die einer solch zugespitzten medizinischen Notlage gerecht werden können“, sagte Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionschefin der Grünen, unserer Redaktion. Ihre Fraktion wolle zügig mit den Koalitionspartnern von SPD und FDP beraten. Justizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte an, schnell einen Gesetzentwurf vorlegen zu wollen.

Wie sind die Reaktionen auf das Urteil?

Der Sozialverband VdK begrüßt die Entscheidung des Gerichts. Der Gesetzgeber müsse in der aktuellen Pandemie-Situation dringend handeln, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele am Dienstag in Berlin. "Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage." Jede Benachteiligung wegen einer Behinderung müsse verhindert werden, betonte Bentele. "Die Politik muss nun unverzüglich handeln, das hat das Gericht sehr deutlich gemacht."

Nancy Poser, selbst Richterin und eine der Klägerinnen, zeigte sich „erleichtert“. „Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage“, sagte sie.

Der Chef der Weltärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sprach gegenüber dieser Redaktion von einem "klugen Urteil". Die Leitlinien der Fachgesellschaften seien "Hilfestellungen für Ärzte in ethischen Extremsituationen", ein Gesetz könnten sie aber nicht ersetzen. Ähnlich wie beim Transplantationsgesetz solle der Bundestag nun "Leitplanken" definieren und die medizinisch-wissenschaftlich kompetenten Organisationen die Handlungsleitlinien. "Aber die Verantwortung für die Letztentscheidung wird immer bei Ärztinnen und Ärzten bleiben", sagte Montgomery.