Der Fall Nawalny löst eine Debatte um die Gasleitung North Stream 2 aus. Gilt international keine Unschuldsvermutung?

Nicht ohne Grund gilt im deutschen Recht die Unschuldsvermutung. Der Beschuldigte in einem Strafverfahren muss bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig gelten. Doch die deutsche Politik vergisst diesen Grundsatz, sobald es um internationale Konflikte geht. Beispiel: die Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny.

Reflexartig geißelten Spitzenpolitiker den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Natürlich hat der ein Interesse daran, einen Kritiker verstummen zu lassen. Und er ist in der Vergangenheit plump vorgegangen, zum Beispiel als er die Krim annektierte. Der vermeintlich einfache Schluss im Fall Nawalny muss indes nicht stimmen. Stellen sich doch Fragen: Warum genehmigt Moskau die Rettung in Berlin, wenn es etwas zu verbergen gäbe?

Die ausgelösten Diskussionen jedenfalls freuen einen anderen: Donald Trump. Es ist kein Zufall, dass die fast fertiggestellte Erdgasleitung North Stream 2 von Russland nach Deutschland in die Diskussion gerät. Dass diese den USA ein Dorn im Auge ist, zeigt die Boykottandrohung dreier republikanischer Senatoren für den Hafen von Sassnitz. Auf Rügen lagert der Materialnachschub für den Rest der Leitung durch die Ostsee.

Trump steht vor den Wahlen unter Druck: Das Außenhandelsdefizit macht den USA zu schaffen. Energieträger sind eine wichtige Säule im Export. Die neue Gasleitung stärkt aber Russland beim Absatz von Gas in Europa – und mindert die Chancen für Frackinggas, das die USA mit Schiffen nach Europa bringen wollen. North Stream 2 schwächt aber auch die Position der Transitländer, die bislang von den russischen Gasexporten via Trassengebühren profitierten.

Das zeigt die vielschichtigen Interessenlagen. Ein Urteil sollte auch im Fall Nawalny erst nach der Aufarbeitung fallen. Doch lässt sich überhaupt der Urheber des Anschlages nachvollziehen? Und falls ja: Wird das jemals öffentlich?