Vilnius/Brüssel. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte das Ja zum Nato-Beitritt Schwedens an Bedingungen knüpfen. Dann lenkte er ein.

Eines ist dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beim Nato-Gipfel in Vilnius sicher: Alle Augen werden sich beim Treffen der 31 Staats- und Regierungschefs der Allianz auf ihn richten – obwohl sonst eigentlich immer der US-Präsident die Hauptrolle spielt, wenn die Spitzen der Nato-Staaten zusammenkommen. Doch nun steht beim Gipfel vor allem eine Frage im Raum: Wird Erdogan wirklich noch grünes Licht geben für den dringend ersehnten Nato-Beitritt Schwedens? Was wird aus seinem beispiellosen Versuch, die Nato und die Europäische Union zu erpressen?

Montagnachmittag sah alles nach einem Eklat aus: Kurz vor seinem Abflug nach Vilnius zündete Erdogan in Istanbul die Bombe und stellte völlig überraschend einen Zusammenhang her zwischen Schwedens Nato-Beitritt und dem türkischen EU-Beitritt. "Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, und dann öffnen wir den Weg für Schweden", sagte Erdogan.

"Ich möchte eine Tatsache unterstreichen. Die Türkei hat 50 Jahre lang vor der Tür der EU gewartet", erklärte der Präsident weiter. "Fast alle Nato-Mitglieder sind auch EU-Mitglieder. Ich wende mich nun an diese Länder, die die Türkei sei über 50 Jahren haben warten lassen, und ich werde mich erneut an sie in Vilnius wenden." Dass habe Erdogan nach eigenen Worten auch schon dem US-Präsidenten erklärt, als beide am Sonntag telefonierten.

Am Montagabend dann die nächste Kehrtwende: Nach einem Treffen mit Erdogan und dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Türkei wolle den Nato-Beitritt nicht länger blockieren. Erdogan habe zugestimmt, das Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem türkischen Parlament vorzulegen, sagte Stoltenberg am Montagabend auf einer Pressekonferenz in Vilnius. Der Frage, wann der Nato-Betritt Schwedens vollzogen sein könnte, wich Stoltenberg allerdings aus. Er wiederholte nur, dass es eine klare Zusicherung gebe, die Ratifikationsdokumente dem Parlament zuzuleiten

Schweden wartet seit Mai 2022 auf den Nato-Beitritt

Erdogans Versuch, von den europäischen Regierungschefs die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen zu erzwingen, war auch mehr als waghalsig. Der türkische Präsident verändert damit auch seine bisherige Argumentationslinie. Er hatte die Aufnahme Schwedens bislang vor allem mit der Begründung blockiert, die Regierung in Stockholm tue nicht genug gegen Terrororganisationen, die die Türkei bedrohten – namentlich gegen Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die sowohl von der Türkei als auch von der Europäische Union als terroristische Organisation einstuft wird.

Seit Mai 2022 wartet Schweden deshalb auf den Nato-Beitritt. Während Finnland, das zeitgleich einen Mitgliedsantrag gestellt hatte, inzwischen der Allianz angehört. Neben der Türkei hat zwar auch Ungarn den Beitritt der Schweden noch nicht ratifiziert – aber der Budapester Premier Viktor Orban wartet offenbar nur auf eine Entscheidung Ankaras.

Als Erdogan jetzt die europäische Karte zog, durfte er um die Aussichtslosigkeit des Versuchs gewusst haben. Erdogan müsse "verstehen lernen, dass die Nato und die EU zwei vollständig getrennte Organisationen sind", sagt der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen unserer Redaktion. "Beiden ist indessen gemeinsam, dass Erpressung als Umgangsform nicht akzeptiert wird." Den Weg der Türkei in die Europäische Union versperre nicht die EU, sondern allein Erdogan, meint Röttgen. "Er hat sein Land bewusst und systematisch von Demokratie und Rechtsstaat und damit von der EU weggeführt."

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wies Erdogans Forderung ebenso klar zurück: "Schweden erfüllt alle Voraussetzungen", sagte Scholz. Die EU-Beitrittsfrage hänge damit nicht zusammen und solle auch nicht so verstanden werden.

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Leichte Wiederannäherung zwischen der EU und der Türkei

Tatsächlich liegen die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen seit Jahren auf Eis. Die Gespräche über notwendige Reformen in der Türkei waren mit den Jahren immer schwieriger geworden, 2016 zog die EU die Notbremse: Seit dem gescheiterten Militärputsch gegen Erdogan und den folgenden Massenverhaftungen und Menschenrechtsverletzungen wird nicht mehr verhandelt. Offiziell beendet sind die Gespräche zwar nicht, beide Seiten scheuen den letzten Schritt. Aber weil klar ist, dass ein Beitritt der Türkei auf absehbare Zeit nicht mehr zur Debatte steht, gelten neue Beitrittsgespräche in Brüssel als ausgeschlossen – es sei denn, Erdogan ändert radikal seinen Kurs, wie EU-Diplomaten erläutern.

Zuletzt, nach Erdogans Wahlsieg vor zwei Monaten, gab es aus Brüssel immerhin Signale einer leichten Wiederannäherung: Über die Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und Türkei und Visaerleichterungen für türkische Bürger könne mittelfristig gesprochen werden, sagen EU-Beamte. Möglich, dass Erdogan sich jetzt bei diesen Themen substanzielle Zugeständnisse von den in Vilnius anwesenden EU-Regierungschefs erhofft.

Bilaterales Gespräch zwischen Erdogan und Biden geplant

Wendig ist er allemal. Noch am Freitag hatte der Präsident versöhnliche Töne angeschlagen und versprochen, im Hinblick auf den Mitgliedsantrag Schwedens verantwortungsvoll vorzugehen. "Wir werden es mit unseren Partnern während des Gipfels besprechen und die beste Entscheidung treffen, was auch immer sie sein wird", sagte Erdogan. Immerhin erklärte er sich auch zu einem Krisentreffen bereit, zu dem Nato-Generalsekretär Stoltenberg ihn und den schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson für Montagabend in Vilnius eingeladen hatte.

Doch einlenken wird Erdogan allenfalls auf großer Bühne. Mit US-Präsident Biden hat er ein bilaterales Treffen am Rande des Gipfels verabredet. Biden glaubte bisher, den Joker in der Hand zu halten: Nach einem Ende der Blockade könnten die USA die Türkei bei der erhofften Modernisierung ihrer F-16-Kampfjet-Flotte unterstützen, bekräftigte der US-Präsident am Wochenende. Allerdings wollen sowohl Erdogan als auch Biden den Eindruck vermeiden, dass die F-16-Jets die offizielle Gegenleistung für das Ja zur Nato-Norderweiterung wären. So stellt die Brüsseler Nato-Botschafterin der USA, Julianne Smith, auch schon klar: "Ein schwedischer Beitritt ist gut für die gesamte Allianz, auch für die Türkei".

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Druck auf schwedischen Ministerpräsidenten wächst

Die Regierung in Stockholm hat zwar bereits einiges unternommen, um ihm entgegenzukommen: Anti-Terrorgesetze wurden verschärft, ein Waffenembargo gegen die Türkei aufgehoben. Zuletzt hatte es Ankara aber schwer verärgert, dass in Schweden während einer Demonstration ein Koran verbrannt werden durfte, ohne dass die Polizei eingriff. Zudem ist Erdogans Forderung, 130 angebliche "Terroristen" an die Türkei auszuliefern, aus schwedischer Sicht nicht erfüllbar.

Für Ministerpräsident Kristersson war die Verzögerung aber gefährlich. Er hat nicht nur die Nato-Mitgliedschaft zu einer seiner Prioritäten erklärt. Inzwischen gibt es in Schweden auch zunehmend Kritik an den Zugeständnissen gegenüber Ankara. Beschädigt wäre allerdings auch der Nato-Generalsekretär, der seine gesamte Autorität in die Waagschale geworfen hatte, um den Streit zu beenden. Erdogan dagegen zeigt seinen Landsleuten, dass er auf Augenhöhe mit dem US-Präsidenten und anderen wichtigen Staatschefs redet. Nur der russische Präsident Wladimir Putin dürfte enttäuscht sein. Putin hätte es Erdogan sicher hoch angerechnet, wenn die Nato auch während seines geplanten Türkei-Besuchs im August immer noch um die Aufnahme Schwedens ringt.

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