Erfurt. Inflation, Krisen, Schulden: Der deutsche Chefnotenbanker Joachim Nagel war mit dem Chefostpolitiker Carsten Schneider in Erfurt auf Beruhigungstour.

Zu Beginn stellt die Moderatorin mit professioneller Forschheit eine Aufwärmfrage an Publikum: „Glauben Sie, dass Deutschlands Finanzen zukunftssicher sind? Bitte einmal kurz den Arm heben! Trauen Sie sich!“

Von den etwa 150 mittelalten bis älteren Männern und wenigen Frauen, die im Konferenzsaal des Erfurter Augustinerklosters sitzen, heben nur sehr wenige die Arme. Es sind vielleicht zehn Prozent. Der Rest hat erkennbar Sorgen.

Gesamtes Sozialsystem unterfinanziert

Dafür gibt es Gründe. Deutschland hat sich in der Corona-Pandemie und in Folge des Ukraine-Kriegs mit mehreren hundert Milliarden Euro zusätzlich verschuldet. Und das gesamte Sozialsystem – ob nun Rente, Pflege oder Gesundheit – ist strukturell unterfinanziert. Und die Inflation liegt wieder bei 6,4 Prozent.

Doch der mittelalte Mann, der an diesem Montagabend auf dem Podium sitzt, will die Finanzlage entspannt betrachten. „Ich denke, wir sind deutlich besser aufgestellt, wie wir die gefühlte Wahrnehmung haben“, sagt Joachim Nagel, der Präsident der Deutschen Bundesbank. Zwar hätten die zahlreichen Krisen – Banken, Flüchtlinge, Pandemie und jetzt der Ukraine-Krieg – „einige Bremsspuren“ hinterlassen. Aber: „Manchmal neigen wir Deutschen dazu, dass wir nur den schwierigeren Teil sehen und nicht die Chancen.“

Die Alles-halb-so-schlimm-Botschaft

Nagel ist 57, stammt aus Karlsruhe und amtiert seit Dezember 2021 als Präsident der Notenbank. Sein badischer Singsang verstärkt den von ihm ausgestrahlten Eindruck von Nahbarkeit, der wiederum bei der Übermittlung seiner Alles-halb-so-schlimm-Botschaft hilft.

Zum Beispiel die Jahresinflation: Sie sei jetzt nur noch einmal gestiegen, weil ja genau vor einem Jahr 9-Euro-Ticket und Tankrabatt eingeführt wurden. Es handele sich also um einen statistischen Effekt.

Die Teuerungsrat, referiert Nagel, habe vor allem mit den Nachwirkungen der Lockdowns und Lieferprobleme in der Pandemie zu tun. Auch ohne den „exogenen Schock“ der russischen Invasion in der Ukraine läge sie bei 4 bis 5 Prozent.

Wichtig sei, dass auch die Europäische Zentralbank rasch mit Zinserhöhungen gegengesteuert habe. Schnelligkeit sei hier der entscheidende Faktor. „Die Inflation ist ein gieriges Biest, sie frisst sich sonst überall rein.“ Gleichzeitig, das gibt Nagel zu, hätten die niedrigen Zinsen „wie eine Droge“ gewirkt, die nun fehle. „Wir müssen wieder den Markt entwöhnen.“ Dennoch sei er fest überzeugt, dass „wir das Thema in den Griff bekommen“ und es „keine harte Landung für die Wirtschaft“ gebe.

Nagel: Bundeshaushalt ist Stabilitätsanker der EU

Der mittelalte Mann, der neben dem Präsidenten auf dem Podium sitzt, stimmt ausdrücklich zu. Carsten Schneider wurde vor gut 47 Jahren in Erfurt geboren und sitzt seit 1998 für die SPD im Bundestag. Dort hat er es über den haushaltspolitischen Sprecher und den Parlamentarischen Fraktionsgeschäftsführer bis ins Kanzleramt geschafft, wo er ebenfalls seit Dezember 2021 mit dem Titel Staatsminister als Regierungsbeauftragter für Ostdeutschland amtiert.

Die Botschaft des Politikers ist berufsbedingt direkter als die des Bankers. Sie lautet: „Vertraut uns!“ Nach der enormen Neuverschuldung bedeutete der gerade im Kabinett beschlossene Entwurf des Bundeshaushalts die Rückkehr zur Konsolidierung, sagt der Abgeordnete. Der Bundesbankpräsident assistiert: Trotz der vielen Sondervermögen – die de facto Schuldenfonds sind – bleibe der „deutsche Haushalt ein „Stabilitätsanker in der EU“.

Schneider und Nagel kennen, mögen und duzen sich, was die gewollte Wohlfühlstimmung noch verstärkt. Der Ost-Beauftragte lobt ausführlich die Ost-Investitionen wie Intel in Magdeburg, Infineon in Dresden und CATL in Arnstadt. Ostdeutschland werde hier zur „Weltspitze“ gehören, allerdings sei dafür ganz viel „gezielte Zuwanderung“ nötig.

Die Demografie, sagt Schneider, sei neben der Dekarbonisierung und der Digitalisierung die entscheidende Zukunftsfrage: „Ab 2026 wird das verfügbare Arbeitspotenzial dramatisch abstürzen.“

Schneider fordert „Schubumkehr“ für Ampel-Koalition

Denn natürlich kommen Nagel und Schneider nicht umhin, auch die Probleme anzusprechen, und sei es auf Nachfragen aus dem Publikum. So gesteht der Bundesbankpräsident ein, dass die staatlichen Fördermittel zu langsam ankämen und die Bürokratie klemme: „Wir müssen einen Zahn zulegen, damit wir da den Anschluss nicht verlieren.“

Der Ost-Beauftragte wiederum muss einräumen, dass seine Bundesregierung eher nicht das von ihm erbetene „Zukunftsvertrauen“ einflößt. Der von der Ampel dargebotene Dauerstreit „ärgert mich schon sehr“. Die Regierung dürfe sich nicht mehr „mit Kleinigkeiten behängen“, da müsse „eine Schubumkehr“ geben. „Die Stimmungslage in der Bevölkerung ist wirklich kritisch, ich hoffe sehr, dass das besser wird.“

Pauschalurteile frustrieren den Notenbankchef

Nagel assistiert. „Wir haben verlernt, auch jene zu erreichen, die nicht immer zuhören“, sagt er. Deshalb müsse man, so wie in Erfurt, „noch stärker auf die Menschen zugehen.“ Was ihn nur dabei zuweilen frustriere, dass manche „Pauschalurteile fällen und nichts anderes zulassen wollten“.

So wie alle an diesem Abend erwähnt auch Präsident der Bundesbank nicht die aktuelle Hochkonjunktur der Partei namens AfD. Dafür sagt er: „Ich lasse mir nicht Bange machen“.

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