Brüssel. Die EU und die Südamerika-Staaten planen die größte Freihandelszone der Welt. Jetzt gibt es Streit. Wie gefährlich wäre ein Scheitern?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte aus ihrer Ungeduld keinen Hehl. Als sie am Montag vor dem großen EU-Lateinamerika-Gipfel in Brüssel Brasiliens Präsidenten Lula da Silva zum Einzelgespräch empfing, drängte sie den Gast freundlich, aber sehr bestimmt zum Einlenken in einem bedrohlichen Konflikt. Die Differenzen um das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten müssten so schnell wie möglich beigelegt werden, forderte von der Leyen mit Blick auf Klimawandel und Ukraine-Krieg: „Wir brauchen unsere engen Freunde in diesen unsicheren Zeiten an unserer Seite.“ Warum ist der Konflikt für Verbraucher in Deutschland bedeutsam? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Warum ist der EU das Handelsabkommen so wichtig?

Die Kommission fürchtet um die Früchte der europäischen Handelsstrategie. Eine neue Generation von breit angelegten Freihandelsabkommen vor allem mit Wachstumsregionen sollte die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken, Wachstum und Beschäftigung fördern – und die Importe von wichtigen Rohstoffen auf eine sicherere Basis stellen. Von der Leyen spricht von einer „ehrgeizigen Handelsagenda“ als Säule ihres Plans zur Förderung grüner Industriebranchen. Zuletzt waren Abkommen mit Neuseeland, Japan, Kanada und Vietnam vereinbart worden.

Doch Verträge mit besonders wichtigen Märkten stehen aus: Die Gespräche mit den USA wurden nach einer Pause erst wieder aufgenommen, auch mit Australien, Indien, Mexiko, Chile, Indonesien und dem Block der Asean-Staaten wird noch verhandelt. Das geplante, aber umstrittene Mercosur-Abkommen hat deshalb strategische Bedeutung. Längst ist ein globales Rennen um solche Abkommen im Gang, auch im Wettbewerb mit China. Weil Russland als Rohstoff- und Energielieferant ausfällt, gleichzeitig die Abhängigkeit von China reduziert werden soll, ist Europa auf andere Handelspartner angewiesen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßt in Brüssel den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva. Bevor mehr als 50 Staats- und Regierungschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik zu einem Gipfel zusammenkamen, drängte von der Leyen Lula im Einzelgespräch zur schnellen Einigung auf das geplante Mercosur-Abkommen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßt in Brüssel den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva. Bevor mehr als 50 Staats- und Regierungschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik zu einem Gipfel zusammenkamen, drängte von der Leyen Lula im Einzelgespräch zur schnellen Einigung auf das geplante Mercosur-Abkommen. © dpa | Geert Vanden Wijngaert

Was bringen Freihandelsabkommen für Wirtschaft und Verbraucher?

Mit Freihandelsabkommen verständigen sich die Partner auf einen unbeschränkten Handel für alle oder bestimmte Waren und den Abbau von Zöllen. Generell profitiert besonders die deutsche Wirtschaft von offenen Märkten im Ausland: Knapp 30 Prozent der Arbeitsplätze hängen vom Export ab, in der Industrie sogar mehr als die Hälfte. Die EU, die die Handelsabkommen für alle ihre 27 Mitgliedstaaten verhandelt und abschließt, hat bislang mit knapp 40 Ländern Freihandelsabkommen vereinbart. Sie verbessern die Absatzchancen, der Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen senkt die Kosten. Für Verbraucher bedeutet das oftmals niedrigere Preise; generell ist ein stärkerer Wettbewerb auch in ihrem Interesse. Die EU bemüht sich, dass strenge europäische Standards nicht aufgeweicht werden, in der Regel mit Erfolg.

Was ist der Mercosur-Vertrag?

Mercosur ist die internationale Wirtschaftsgemeinschaft im südlichen Lateinamerika mit den Ländern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, die zwei Drittel des südamerikanischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Tun sich Mercosur und EU zusammen, schaffen sie die größte Freihandelszone der Welt mit 780 Millionen Menschen. Er soll vor allem Zölle abbauen und damit den Handel ankurbeln. Das Abkommen wurde seit 1999 verhandelt, das fertige Abkommen liegt seit 2019 vor. Deutschland hofft auf eine deutliche Exportsteigerung vor allem für die Autoindustrie.

Die Südamerikaner können zum Beispiel – mit Zollermäßigung für begrenzte Mengen - mehr Rindfleisch, Geflügel, Zucker oder Futtersoja nach Europa liefern, wobei die EU betont, dass die strengen europäischen Produktstandards für den Verbraucherschutz weiter eingehalten würden. Doch die Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten stockt. Weil der inzwischen abgewählte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Abholzung des Regenwalds am Amazonas nicht stoppen wollte, wurde das Abkommen bislang nicht ratifiziert - das EU-Parlament blockte ebenso wie einige EU-Staaten. Mit dem neuen Präsidenten sollten das Problem jetzt schnell ausgeräumt werden, die EU hofft auf einen Abschluss bis Jahresende, auch Lula de Silva sprach sich am Montag dafür aus. Ob das gelingt, ist aber offen.

Warum gibt es Streit um das Mercosur-Abkommen?

In der EU gibt es Bedenken etwa von Österreich, den Niederlanden und Frankreich – sie fürchten Nachteile für ihre Landwirte und verweisen unter anderem auf die steigenden Rindfleisch-Importe. Wenn diese Länder das Abkommen blockieren sollten, wäre es gescheitert. Kritiker warnen zudem vor einer Aufweichung von Arbeits- oder Umweltstandards. Greenpeace etwa erklärt, das Abkommen werde zu mehr Regenwaldabholzung, Umweltzerstörung, Landraub und Missachtung von Arbeitsrechten führen. Die Rindfleischquote wäre mitverantwortlich für Waldzerstörung in Amazonien, da dort Wälder Ackerflächen zum Opfer fallen, warnt die Umweltorganisation.

Um die Kritiker in Europa zu besänftigen, hatte die EU zuletzt einen Vorschlag für eine Zusatzvereinbarung gefordert, die Umwelt, Klimaschutz und Menschenrechte besser schützen soll. Den Vorschlag nennt Brasiliens Präsident Lula da Silva aber „inakzeptabel“. So könne es keine Einigung geben. Lulas argentinischer Kollege Alberto Fernández drängt sogar schon auf eine Neuverhandlung des Abkommens. Die Gespräche gehen weiter. Aber das Selbstbewusstsein der Mercosur-Staaten ist gestiegen: Während Brüssel neue Bedingungen stellt, bietet China den Ländern bilaterale Verträge ohne verschärfte Standards an.