Berlin/München. Drag-Künstler sollen in München Kindern vorlesen. Die Politik reagiert mit reichlich Schaum vorm Mund – den Schaden hat die CSU.

Eine Kinderbuch-Lesung in München wird zum Politikum. In der bayerischen Landeshauptstadt hat eine Stadtteilbibliothek für den 13. Juni eingeladen zu einer Veranstaltung. Unter dem Titel "Wir lesen euch die Welt, wie sie euch gefällt" dürfen die die Drag Queen Vicky Voyage, der Drag King Eric BigClit und die trans Autorin Julana Gleisenberg Kindern vorlesen.

Das Event werde eine "farbenfrohe Leserunde" sein, heißt es im Veranstaltungskalender, im Anschluss dürfen sich die Gäste mit den Vorlesenden austauschen. Erzählt werden soll von "unterschiedlichsten Held:innen: Jungs in Kleidern, Prinzessinnen mit ihrem eigenen Willen, den Farben Blau und Rosa, von Kaninchen und Füchsinnen, dem Entdecken der eigenen Freiheit und vielem mehr". Der Eintritt ist frei, kommen darf die ganze Familie, Kinder sollten mindestens vier Jahre alt sein.

Soweit so bunt und eigentlich nichts besonderes mehr. Drag-Lesungen gehören auch in München zum festen Bestandteil des Pride Month, der jedes Jahr im Juni gesellschaftliche Vielfalt zelebriert und Aufmerksamkeit für Themen rund um LGBTIQA+ schafft.

Die Christopher-Street-Day-Paraden markieren in vielen Städten weltweit den Höhepunkt der Pride, der Münchner CSD lockte vergangenes Jahr 400.000 Menschen auf die Straßen. Die Weltstadt mit Herz rühmt sich nicht zu unrecht für ihre Offenheit und liberale Gesellschaft. Nur dieses Jahr fallen Pride, Paraden und Lesungen in ein Wahlkampfjahr, der Freistaat wählt im Oktober einen neuen Landtag.

Bayerns Politik übt sich im Republikaner-Sprech

So konnte man in den vergangenen Tagen aus dem Süden der Bundesrepublik Töne vernehmen, die sonst eigentlich aus den US-republikanischen "anti-woke"-Chören schallen. Im Land der Freiheit gelten Drag-Lesungen seit längerem gewissermaßen als Fanal der queeren Szene, geeignet die Vereinigten Staaten in ein kommunistisches Utopia zu verwanden.

Vielerorts sind die Lesungen regelmäßig von ultra-rechten belagert, müssen verschoben oder abgesagt werden. Nicht wenige Bundesstaaten gehen zudem mit Gesetzen gegen Drag-Kunst vor, Florida zum Beispiel, bei dessen republikanischem Gouverneur Ron DeSantis CSU-Größen wie die Ex-Bundesminister Andreas Scheuer und Dorothee Bär zuletzt zu Gast waren.

Vor "woker Frühsexualisierung" etwa warnte dann CSU-Generalsekretär Martin Huber, CSU-Stadtrat Hans Theiss witterte "Sexualkunde durch Drag Queens für 4-Jährige", während der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) noch tiefer griff, Parallelen zog zwischen queeren Menschen und Pädophilen und die Lesung als grüne Spinnerei verdammte, der sich das Jugendamt anzunehmen habe.

Verbotsrufe wurden laut, die CSU-Fraktion im Bezirksausschuss brachte einen Dringlichkeitsantrag ein, forderte, die Lesung "umgehend abzusagen". Die Landtags-AfD tat dazu noch die Auffassung kund, Kinder seien vor "solch linker Ideologie" zu schützen. Selbst der Münchner SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter – Schirmherr des CSD – sagte der "Bild", er würde mit seinen Enkeln nicht hingehen. Er habe "kein Verständnis" für diese Art Programm, das für Vierjährige nicht geeignet sei.

Drag-Künstler verteidigen Lesung

Die Stadtbibliothek und die Münchener Grünen verteidigten die Veranstaltung, der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) verurteilte CSU, AfD und den SPD-Oberbürgermeister scharf: "Die Kosten dieser populistischen Aussagen von CSU und OB Dieter Reiter zahlen queere Menschen, Kinder und Familien in Bayern", twitterte der LSVD. "Wer Aufklärungsarbeit als schädlich diffamiert, hat nichts verstanden und handelt fahrlässig."

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Dazu hilft es zu wissen: Die trans Autorin Gleisenberg ist im Jahr 2009 geboren, seit 2021 offiziell als Mädchen anerkannt. Dass die beiden Drag-Künstler an der Seite eines jungen Menschen eine laszive Travestie-Show vor Kinderaugen bringen, wie beim nicht ganz unauffälligen Namen "Eric BigClit" vielleicht denkbar, darf als ausgeschlossen gelten. Gleisenberg hat eine Broschüre mit dem Titel "Endlich ich! Mein Weg vom Jungen zum Mädchen" verfasst. Mit Sex oder Erotik hat das nichts zu tun.

So verteidigte denn auch jener Eric BigClit die Lesung seiner Kunstfigur im Bayerischen Rundfunk. Sie fühle sich zwischen den Geschlechtern zuhause, etwas Wunderschönes sei das und "überhaupt nichts, was ich irgend wem aufdrücken möchte, weil ich das eigentlich sogar umgekehrt kenne, dass man mir irgendwas anerziehen wollte, was ich in meinem Herz, in meiner Seele nicht bin".

Auch Vicky Voyage sah sich genötigt, Stellung zum Auftritt vor Kindern zu beziehen. Drag sei ab null Jahren geeignet, sagte sie der Münchener Abendzeitung. "Die Kinder können auf Erzählungen gespannt sein, die unabhängig vom Geschlecht zeigen, was das Leben für sie bereithält und dass sie alles tun können, wenn sie an ihren Träumen festhalten". Mit Sexualität habe die Lesung nichts zu tun, es gehe um Identität und Diversität.

Den Schaden hat die CSU

Reiter änderte nach der Kritik am Montag seine Meinung. Ein Verbot komme nicht in Frage, die Teilnahme sei ja freiwillig und überhaupt stehe er "weiterhin stabil an der Seite der gesamten queeren Szene". Der CSD-Schirmherr entschuldigte sich dafür, Menschen verletzt zu haben. "Das war nie meine Absicht und tut mir leid." Am Dienstag folgte der Friedensgipfel mit Vertretenden des CSD, der OB darf die Parade auch dieses Jahr anführen.

Selbst die CSU-Stadtratsfraktion schien sich zuletzt nicht einig in der Bewertung der Drag-Lesung; die Abendzeitung jedenfalls berichtete, man sei nicht ganz auf der Linie des stellvertretenden Vorsitzenden Theiss, nach der die Stadtbibliothek vierjährige Kinder in den Sexualkundeunterricht schickt.

Den Schaden hat die CSU am Ende trotzdem. Die Lesung wird aller Voraussicht nach stattfinden und der CSD wird dieses Jahr ohne Wagen der Staatspartei durch München ziehen. Die Veranstalter erteilten der Anmeldung für die PolitParade eine Absage: Voraussetzung für eine Teilnahme sei der "glaubhafte und konsequente Einsatz" für gleiche Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz aller queeren Menschen.

Die jüngsten Forderungen "von Teilen (nicht nur) der Münchner CSU zum Verbot einer Drag-Lesung ließen dies wenig glaubhaft" scheinen. Im Wahlkampf ist das nicht unerheblich, denn der Partei entgeht damit eine Chance, sich als weltoffen und bunt darzustellen.

So bleibt am Ende die Erkenntnis der Olivia Jones. Der Deutschen Presse-Agentur sagte die Drag Queen: "Etwas mehr Unaufgeregtheit und weniger Populismus würde der Diskussion sicher gut tun."