Berlin/Bremen. Die Bundesregierung verfehlt ihre Impfziele. Viele Menschen lassen sich nicht impfen. Welche Rolle spielt dabei die Herkunft der Menschen?

Die Grohner Düne ist kein Hügel aus Sand. Es ist ein Berg aus Beton. Eine Plattenbausiedlung im Bremer Stadtteil Vegesack, manche Häuser mehr als 50 Meter hoch, 16 Stockwerke. Fotos im Internet zeigen die Wohnblöcke gestaffelt wie Treppen. Rund 2000 Menschen leben hier, fast jeder von ihnen, so die Bremer Verwaltung, habe Migrationsgeschichte: eine türkische, russische oder afghanische.

Manche nennen den Ort einen „Konfliktherd“, einen „sozialen Brennpunkt“, der entstehen kann, wenn Menschen eng zusammenleben, im Randbezirk, die Arbeitslosigkeit hoch ist, die Unterschiede der Kultur groß. Doch eines, so jedenfalls erzählt es Lukas Fuhrmann von der Bremer Gesundheitsbehörde am Telefon, gibt es hier nicht: ein Problem mit Impfverweigerern. Rund 90 Prozent der Menschen in der Wohnsiedlung sind mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft. Lesen Sie auch: Erkranken Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger an Corona?

Impfquote: Weniger als 80 Prozent gegen Corona geimpft

Die Bundesregierung verfehlt ihr Impfziel: 80 Prozent der Menschen in Deutschland wollte Kanzler Olaf Scholz (SPD) gegen Covid impfen lassen – erst bis Anfang Januar, dann bis Ende Januar. Und nun ist klar: Auch das Ziel verfehlt die Regierung. Die Impfquote liegt bei 75,8 Prozent. Auch die Impfpflicht, die Scholz bis Februar oder März wollte, kommt sicher später. Auch interessant: Was die neue Koalition in der Asylpolitik plant

Wer sind die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen? Und wie erreicht man sie doch noch? Es sind zwei entscheidende Frage, die das Scholz-Kabinett im Kampf gegen die Pandemie beantworten muss. Im Fokus dabei auch immer wieder: Menschen mit Migrationsgeschichte, aus türkischen oder russischen oder afghanischen Familien. Menschen wie in der Grohner Düne.

Es fehlen die Daten – die Impfquoten unter Migranten sind bloß Schätzungen

Und nicht überall sind die Impfquoten so hoch wie dort. In Sachsen, Thüringen, Brandenburg sind sie am niedrigsten. Dort leben wenige Ausländer und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Bremen steht dagegen ganz oben, fast 90 Prozent sind erstgeimpft. Ausgerechnet hier, im kleinen Stadtstaat mit hoher Armutsquote und hohen Schulden – und mit vielen Migranten.

Wie das gelingen konnte? Mit einem Kraftakt – und mit Voraussicht. So jedenfalls beschreibt es Fuhrmann. Vielleicht auch mit Erfahrung. Schon früh, im Sommer 2020, hat Bremen die Corona-Inzidenzen in den einzelnen Stadtteilen gemessen. Dort, wo der Wohnraum eng ist, die Arbeitslosigkeit hoch und auch viele Migranten leben, steckten sich auch viele Menschen schnell mit dem Virus an. Das hat weniger mit der Herkunft zu tun als mit den sozialen Umständen in den Vierteln. Home-Office ist dort oft kein Thema. Lesen Sie auch: Rente und Arbeitslosigkeit – das droht, wenn man seinen Job verliert

Als der Impfstoff da war, hat Bremen Geld in die Hand genommen – und schickte „Gesundheitsfachkräfte“ in die Viertel wie der Grohner Düne. Viele von ihnen selbst Migranten. Sie sprechen die Sprache der Menschen vor Ort. Und, so Fuhrmann, sie hätten aufgeklärt über den Impfstoff, die Wirkung, die Angebote. Die Bremer Behörden kooperierten mit Sportklubs, Kirchen, Moscheen, Kulturvereinen.

Vertrauen schaffen – das ist nach Ansicht von Fachleuten der Schlüssel zur Impfung

Vor allem aber mit Kindergärten, sagt Fuhrmann. Es gebe unter Migranten oftmals Vorbehalte gegenüber dem Staat, der meist Absender von Rechnungen, Mahnungen, Kürzungen ist. Es brauche Menschen, die in der Gruppe vertrauen genießen, so Fuhrmann. Also verteilten die Erzieherinnen und Erzieher Flyer mit Informationen zur Impfung in sieben Sprachen, wenn die Menschen ihre Kinder aus der Kita abholten.

„Niedrigschwellig“ nennen Fachleute diese Angebote der Gesundheitsversorgung. Bremen baute temporäre Impfzentren in den Stadtteilen mit hoher Infektionszahl auf, ließ Impf-Trucks durch die Viertel fahren. Das Motto: Bremen gegen Corona. „Wir wollen ein Gemeinschaftsgefühl schaffen“, sagt Fuhrmann.

Nicht überall gelingt das. Schätzungen des Robert-Koch-Instituts gehen Ende 2021 davon aus, dass bei „Personen mit Migrationshintergrund“ eine Erstimpfquote von 84,5 Prozent vorliegt, bei Personen „ohne Migrationshintergrund“ sind es demnach 91,4 Prozent. Am Mittwoch will das Institut weitere Quoten veröffentlichen, erstmals wurden Befragungen nicht nur auf Deutsch geführt.

Verlässliche Daten zu Impfquoten unter Menschen mit Migrationsgeschichte fehlen

Das ist wichtig, denn über die Impfquoten unter Migranten gibt es wenig verlässliche Daten. Das ist ein großes Problem. Denn wenn der Staat nicht weiß, wer überhaupt Vorbehalte gegen die Impfung hat, wird er sie schlecht widerlegen können.

Zumal: Migranten-Biografien sind mittlerweile so verschieden wie deutsche Lebensläufe. Viele von ihnen leben Jahrzehnte hier, studiert, andere in zweiter Generation, gut gebildet, andere erst Monate, weil sie als Flüchtling kamen. Manche sind ihr halbes Leben hier und sprechen noch immer wenig Deutsch.

So berichtet es auch der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch hier im Berliner Revier ist der Anteil der Migranten hoch. Zu sehr habe sich die deutsche Impfkampagne bisher auf Muttersprachler konzentriert, sagt Hikel. Zu wenig auf Angeboten in Türkisch oder Arabisch. In Neukölln haben sie dann ähnlich wie in Bremen ihre eigenen Leute losgeschickt: „Interkulturelle Aufklärungsteams“ zogen mit Flyern durch Neukölln.

Nicht die Herkunft ist zentral, sondern Bildung und sozialer Status

Aus Sicht von Fachleuten ist klar: Die Hürden, um Menschen mit Migrationsgeschichte über Corona-Schutz aufzuklären und am Ende auch zu impfen, sind höher als in der Allgemeinbevölkerung. Denn das Interesse an guter Gesundheitsversorgung ist unter Migranten nicht geringer. Das ist Ergebnis einer neuen Studie der Universität Bielefeld, die zur Gesundheitskompetenz in türkischen und ex-sowjetischen Milieus geforscht hat. Zwar sind die Umfragen vor der Pandemie entstanden, die Erkenntnisse lassen sich aber gut übertragen. Ein zentraler Punkt: Nicht die Herkunft ist zentral, sondern Bildung und sozialer Status. Und die fehlende Sprache kann zur Hürde werden.

So gehen Menschen mit türkischer und ex-sowjetischer Migrationsgeschichte in Deutschland sogar häufiger zum Arzt als die Allgemeinbevölkerung – und doch ist das Wissen darüber, welche Klinik oder Praxis, welches Amt oder welche Versicherung wichtige Anlaufstelle ist, geringer. Hier funktioniert Informationsfluss vom Arzt zum Patienten nicht.

Die Corona-Pandemie habe dies verschärft. „Im schnellen Rhythmus ändern sich Verordnungen, Impfstrategien, Infektionslagen. Das ist schon für Menschen kaum zu verfolgen, die gut gebildet sind und gut Deutsch sprechen“, sagt Gesundheitswissenschaftlerin und Studienmacherin Eva-Maria Berens. „Wer Schwierigkeiten mit der Sprache hat, für den ist es noch viel schwieriger, sich in der Pandemie immer mit aktuellen und wichtigen Informationen zum Gesundheitsschutz auseinanderzusetzen.“

Fachleute kritisieren: Die Politik hat sich zu wenig für migrantische Milieus interessiert

So zeigt sich etwa auch: Migranten mit türkischer Herkunft benötigen mehr Wissen darüber, wo sie Hilfe im Gesundheitssystem finden. Menschen aus ex-sowjetischen Milieus finden weniger Zugang zu verlässlichen Informationen.

Fachleute kritisieren, dass die Politik genau dies viel zu lange in der Pandemie vernachlässigt hat. Während frühzeitig mobile Impfteams in Pflegeheime und Kliniken geschickt wurden, blieben andere Gruppen außen vor, die ebenso Angebote zur Impfung direkt vor Ort am besten annehmen.

Es gebe in der Gruppe der Migranten weiterhin „viel Unwissen und Falschinformationen“, berichtet Mosjkan Ehrari, Leiterin der Internetplattform „Handbook Germany“, dem Mediendienst Integration. Etwa, dass Impfstoffe Frauen unfruchtbar machen könnten. Auch Lukas Fuhrmann aus Bremen berichtet von solchen Mythen, die sich hartnäckig auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte halten würden.

Staatsministerin: Fokus mehr auf eine aufsuchende Beratung ohne lange Warteschlangen

Oftmals, das belegen auch die Bielefelder Forscherinnen, bleiben weiter türkische oder russische Medien die wichtigste Quelle für Informationen zu Fragen der Gesundheit. Nur: Dort stehen, anders als in deutschen Medien, seltener Hinweise zur Impfkampagne hierzulande.

Die Corona-Pandemie – sie ist auch eine Krise des Informationsflusses. Am vergangenen Wochenende stand die neue Staatsministerin für Integration im Einkaufszentrum in Neukölln und besuchte eine Impfaktion. Auch Reem Alabali-Radovan sagt: „Wir müssen den Fokus mehr auf eine aufsuchende Beratung setzen ohne lange Warteschlangen und Termin.“ Bei der Impfaktion in Neukölln habe sich gezeigt, wie „wichtig es ist, dass Menschen über ihre Unsicherheiten einfach, direkt und persönlich sprechen können“, erzählte Integrationsministerin Alabali-Radovan unserer Redaktion. Ihre Stelle informiere mittlerweile in 23 Sprachen über Corona und das Impfen.

Es ist auch das, was Bezirksbürgermeister Hikel sagt. „Mit den Impfungen dorthin gehen, wo die Menschen sind.“ Dann eben ins Einkaufszentrum. In Bremen wollen sie diesen Weg ebenfalls weitergehen. Auch wenn die Kosten für das kleine Bundesland hoch sind, der Aufwand an Einsatzkräften belastend. Aber, sagt Behörden-Sprecher Fuhrmann, es zahle sich aus. Für das ganze Jahr 2022 soll die Kampagne noch laufen. Mindestens.