Asbach-Sickenberg/Ifta. Viele Familien wurden 1952 und 1961 aus dem DDR-Grenzgebiet zwangsausgesiedelt. Andere flohen gen Westen. Hier erinnern sich zwei Frauen.

Bärbel Ewecke war sechs, als sie mit ihren drei Geschwistern, Eltern und Großeltern am frühen Morgen des 3. Oktober 1961 aus ihrem Haus in Ifta bei Eisenach von Grenzpolizisten und Stasi geholt wurde: „Wir schliefen noch, als wir durch lautes Krachen geweckt wurden.“

Ewecke gehört zu den mehr als 3000 Opfern der „Aktion Kornblume“ im Oktober 1961, bei der das DDR-Regime missliebige Personen aus dem Sperrgebiet entlang der Grenze ins Innere der DDR umsiedelte. Eweckes Vater hatte sich oft kritisch über das Regime geäußert, wie sie erzählt. Heute lebt die 67-Jährige im hessischen Eschwege.

Plötzlich standen bewaffnete Beamte in den Schlafzimmern

Die Tür sei aufgebrochen worden, bewaffnete Beamte hätten in den Schlafzimmern gestanden: „Die Großeltern wussten nicht, wie ihnen geschah, wir Kinder waren verstört“, erinnert die Frau sich an das dramatische Ereignis. „Wir mussten uns anziehen, die Sachen packen. Ein Bus und ein Lkw unseres Fuhrunternehmens standen vor der Tür bereit. Das Grundstück war abgeriegelt. Es wurde aufgeladen, was reinpasste.“ In den Mittagsstunden wurde die Familie nach Trebra bei Sondershausen gebracht – in ein leeres Haus, deren Besitzer geflüchtet waren. Es gab keine Toiletten. Ratten hausten im Erdgeschoss. Die Familienmitglieder wurden im Ort als „Kriminelle“ abgestempelt: „Ich habe mich aber nie unterkriegen lassen“, sagt Ewecke. 1973 wurde endlich ein Ausreiseantrag für die Eltern genehmigt; ihre Tochter musste in der DDR bleiben.

Solche Schicksale im Blick hat das Grenzmuseum Schifflersgrund in Asbach-Sickenberg. In einem Ausstellungsraum wird an die Zeit der DDR-Zwangsumsiedlungen 1952 und 1961 erinnert. Bilder zeigen etwa, wie Eltern mit Kindern weggebracht werden, Möbel in Lastwagen verladen werden.

„Vielen Menschen sagt dieser Teil der Geschichte nichts mehr. Anders als der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus, sind diese Ereignisse und das Leid nicht im kollektiven Gedächtnis verankert“, sagt Museumsleiter Christian Stöber. Im Frühjahr 2024 soll ein neues Museumsgebäude eröffnen. Dort sollen, so ist es geplant, die Perspektiven von Betroffenen, Zurückgebliebenen und SED-Staat anhand größtenteils noch nicht gezeigter Dokumente, Bilder, Filme und Objekte sichtbar gemacht werden. Auch Bärbel Ewecke soll in der neuen Ausstellung in einem Film zu Wort kommen. Ihr Vater, erzählt sie, habe trotz der Zwangsumsiedlung nie aufgehört, sich kritisch zu äußern. Er sei immer wieder verhört worden. An die 300 Eingaben soll er gemacht haben, um sein Haus in Ifta zurückzubekommen. Obwohl Bärbel Ewecke vor der Ausreise der Eltern unterschreiben musste, nie wieder einen Antrag zu stellen, gab auch sie nicht auf. In der DDR habe sie als Lehrerin reichlich Schikane erlebt – unverhohlene Drohungen, sie zu exmatrikulieren oder als sie schwanger war, ihr das Kind zu nehmen. Entwurzelt, kriminalisiert und terrorisiert worden zu sein, das habe die Familie zermürbt, sagt Ewecke. Sie floh schließlich – das war kurz vor dem Mauerfall.

Das Wasser reichte den Flüchtenden bis zum Hals

Im Museum geht es auch um die Geschichte von Hugo, Elisa, Erhard und Gerda Gastrock, die mit ihrer Flucht den Zwangsumsiedlungen der „Aktion Kornblume“ knapp entkommen konnten. Bis zum Hals stand ihnen das Wasser, als sie aus ihrem Heimatort Lindewerra im thüringischen Eichsfeld durch die Werra, damals Grenzfluss zwischen der Bundesrepublik und der DDR, Richtung Westen wateten. Der waghalsige Marsch nach Oberrieden in Nordhessen krempelte das Leben der Familie um: Zurück ließen sie Angehörige, Freunde, Haus, Land und eine Stockmacherei. „Es war eine Aktion von nur zwei Minuten“, schildert Gerda Gastrock, wie sie als 22-Jährige ihren Mann Erhard und die Schwiegereltern in die Freiheit drängte. Geglückt ist das am 25. September 1961, wenige Wochen nach dem Beginn des Mauerbaus und kurz vor den Zwangsumsiedlungen. „Wir hatten Angst, dass es die eigene Familie trifft“, sagt die heute 83-Jährige.

Dass es so sein könnte, hatte sich über Hintertüren zu ihnen rumgesprochen. Den ersten Konflikt mit dem SED-Staat hatte Gerdas Schwiegervater vier Jahre zuvor gehabt: Da habe die Stasi vor der Tür gestanden, da ihr offenbar gesteckt worden sei, dass er unerlaubt eine Waffe besitze. Die Folge: zwei Jahre und vier Monate Zuchthaus. Wegen guter Führung wurde er 1958 vorzeitig entlassen. Ihr Schwiegervater sei „nicht mehr derselbe gewesen, hatte seinen Humor verloren“, erinnert sich Gerda Gastrock.

Ihre Flucht hatten die Gastrocks vier Tage vorher durch Rufkontakt zu Grenzbeamten im Westen vorbereitet, diese gaben mit einem Wink auch das Startsignal und holten sie aus dem Wasser. Ein paar Habseligkeiten hatte die Familie in Plastiktüten gepackt. Gesichert mit einem Seil hangelte sie sich an ihrem Traktor durch das Wasser.

Die westdeutschen Grenzer standen in den Mittagsstunden jenes Tages sogar mit einer Kamera parat, sodass ein einziges, ziemlich unscharfes Bild von der Flucht existiert. Auch dieses Bild wird voraussichtlich ab Frühjahr 2024 in dem neuen Ausstellungsraum zu sehen sein.

Für Museumsleiter Christian Stöber sind die Erinnerungen von Zeitzeuginnen wie Gerda Gastrock und Bärbel Ewecke viel wert: „Kaum eine andere Quelle ist authentischer.“ Gerda Gastrock ist es wichtig, ihre Erinnerungen öffentlich zu machen. Freiheit und Demokratie sind für sie nicht selbstverständlich, sie hat Druck und Zwang erlebt: „Ich möchte nachfolgende Generationen wissen lassen, wie es einmal gewesen ist.“