Berlin. Vier verlorene Wahlen, sinkende Umfragewerte und neue Schuldenberge: Warum Christian Lindner dennoch erstaunlich gelassen bleibt.

Vier verlorene Landtagswahlen, sinkende Umfragewerte und ein liberaler Finanzminister, der Milliardenschulden machen muss: In Zeitraffer sieht das Jahr für die FDP aus wie ein Horrortrip. Kurz vor Schluss redete Christian Lindner dann auch noch mit sich selbst. In einem Video hatten Youtuber Gesprächsszenen so zusammengeschnitten, dass es wirkte, als würde der eine Lindner den anderen Lindner interviewen. Der echte Lindner reagierte trotz allem mit Humor auf den Netz-Hit: „Es war uns eine Freude“, kommentierte er das Video, zeichnete mit einem doppelten „CL“ und schickte ein Zwinker-Smiley.

Christian Lindner wird in wenigen Tagen 44 Jahre alt. Er hat mit dem Finanzministerium seinen Traumjob bekommen, im Sommer auf Sylt geheiratet und im Süden von Berlin ein nobles Eigenheim gekauft. Persönlich läuft es nicht schlecht für den FDP-Chef. Für seine Partei dagegen war 2022 ein Horrorjahr. Vier Wahlen, vier Niederlagen. In den bundesweiten Umfragen rutschte die Partei im Laufe des Jahres von elf Prozent auf sieben ab.

Landtagswahlen: Ob Lindner an den Spruch von Otto Waalkes gedacht hat?

Die Serie der Tiefschläge begann Ende März im Saarland, es war die erste Wahl nach dem Start der Ampel-Koalition im Bund. Die FDP blieb unter fünf Prozent, verpasste den Einzug in den Landtag. Gut möglich, dass Lindner an jenem Abend an Otto Waalkes‘ legendären Spruch gedacht hat: Lächle und sei froh, es könnte schlimmer kommen.

Parteichef Christian Lindner mit Spitzenpolitikern der FDP.
Parteichef Christian Lindner mit Spitzenpolitikern der FDP. © picture alliance | Frederic Kern/Geisler-Fotopress

Er lächelte und war froh – und es kam schlimmer. Im Mai stürzte die FDP bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ab, die regierenden CDU-Ministerpräsidenten in Kiel und Düsseldorf bildeten Regierungen ausgerechnet mit den Grünen, die FDP war raus. Besonders bitter: Das Aus in NRW, wo viele liberale Spitzenleute ihre politische Heimat haben. Christian Lindner selbst, aber auch Justizminister Marco Buschmann, Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Parlamentsgeschäftsführer Johannes Vogel. Doch es ging noch weiter: Anfang Oktober wählten die Niedersachen die FDP aus dem Landtag. Niedersachsen ist der Landesverband von Fraktionschef Christian Dürr.

Je mehr Niederlagen die FDP kassierte, desto ungemütlicher wurde es in der Koalition. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai stimmte einen neuen Ton an, die Liberalen gingen auf Konfrontationskurs. Mehr Profil zeigen, die liberale Handschrift sichtbarer machen – es war die Kampfansage einer waidwunden Partei an ihre eigenen Koalitionspartner. Im Ringen um längere Atomlaufzeiten, um härtere Sanktionen beim Bürgergeld, im Streit um das Einbürgerungsgesetz - in allen drei Feldern war die FDP auf einmal näher an den Positionen von CDU und CSU als bei ihren Ampel-Partnern. Bislang ohne sichtbaren Erfolg.

Hintergrund:Werden die FDP-Niederlagen zum Problem für die Ampel?

FDP im Umfragetief: Parteinachwuchs warnt vor Selbstmitleid

Und nun? FDP-Vize Wolfgang Kubicki sieht die Ampel bereits auf ein „fundamentales Problem“ zusteuern, andere versuchen zumindest nach außen gelassen zu bleiben: Es habe immer Aufs und Abs gegeben, sagt FDP-Stratege Marco Buschmann. Damit müsse man umgehen können. Andere retten sich mit dem Gedanken, dass die nächste Bundestagswahl erst in drei Jahren ist: Bislang habe die Koalition eben vieles gemacht, was SPD und Grünen zugerechnet werde und nicht der FDP. In den kommenden Jahren gehe es darum, die Zukunft zu bewältigen. „Da kommen wir ins Spiel“, heißt es.

Franziska Brandmann hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. Die 28-Jährige ist seit gut einem Jahr Vorsitzende der Jungen Liberalen, genauso lange, wie es die Ampel-Koalition gibt. Sie sieht die Partei in einer „schwierigen“ Lage. „Die FDP steht unter Druck von zwei Seiten“, sagt Brandmann dieser Redaktion. Sie müsse sich gegen SPD und Grüne behaupten und gleichzeitig gegen die Opposition der Union. „Natürlich ist das eine neue Situation und macht den ein oder anderen nervös.“

Brandmanns Sorge: Dass sich die Partei in Selbstmitleid ergeht und in der Krise zerreibt. Zwischen denen, die wieder vermehrt auf den marktwirtschaftlichen Kern setzen wollen und denen, die in der FDP vor allem die moderne Bürgerrechtspartei sehen. „Wer meint, wir müssten uns zwischen solider Haushalts-Finanzpolitik auf der einen Seite und der Legalisierung von Cannabis auf der anderen Seite entscheiden, den frage ich: Und warum waren wir dann 2017 und 2021 so erfolgreich, als wir konsequent beides vertreten haben?“ Die Wähler, so scheint es, nehmen die Zerrissenheit der Partei wahr. Wer nicht weiß, wofür eine Partei steht, wählt am Ende lieber eine, bei der er das sicher weiß.

Lindner: Er weiß, dass er mit der FDP nicht Kanzler werden kann

Parteichef Lindner dagegen antwortet auf Fragen nach schlechten Umfragewerten, seinem Verhältnis zu Dauerkonkurrent Robert Habeck oder der Stimmung in der Koalition in der Regel mit staatsmännischem Stirnrunzeln: Er habe angesichts von Krieg und Krise gerade wirklich andere Sorgen. Ab und zu aber gibt er dann doch etwas preis: Dann lässt sich ein Mittvierziger erleben, der als Politiker alles erreicht hat, was er erreichen wollte. Der nicht so vermessen ist zu glauben, er könne mit der FDP mal Bundeskanzler werden. Und der immer öfter über die Zeit nach der Spitzenpolitik spricht. Er will sich später mal um die Kinder kümmern, besser reiten lernen, vielleicht imkern. Er sei nicht amtsmüde, sagt Lindner neulich in einem Interview. Er habe inzwischen bloß eine große innere Unabhängigkeit vom tagespolitischen Auf und Ab. Ob die sich hält? 2023 stehen wieder vier Landtagswahlen an. Der Ampel droht ein hartes zweites Jahr.