Warschau. 80 Jahre nach dem Warschauer Ghetto-Aufstand stand erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt vor dem Opfer-Mahnmal – in „tiefer Scham“.

Höher kann die Latte für einen Bundespräsidenten kaum liegen. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt darf Frank-Walter Steinmeier auf dem „Platz der Helden des Warschauer Ghettos“ eine Rede halten. Über ihm ein Zeltdach zum Schutz vor dem Regen, seitlich vor ihm das Mahnmal zum Gedenken an die jüdischen Widerstandskämpfer und die Opfer des deutschen Vernichtungsregimes.

Vor 80 Jahren erhoben sich hier die Menschen gegen den NS-Terror. Wissend, dass sie keine Chance hatten. Weder mit noch ohne Revolte. Denn die Deutschen hatten längst begonnen, die jüdische Bevölkerung Warschaus in Viehzüge zu pferchen und zu deportieren, meist in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka. Den Aufstand wiederum walzte die SS nieder, Zehntausende starben.

Steinmeier in Polen: Der Ort, an dem Willy Brandt auf die Knie sank

Und ausgerechnet hier nun will und soll Steinmeier sprechen. Polens Präsident Andrzej Duda hat ihn eingeladen. Israels Staatschef Isaac Herzog ist auch dabei. An jenem Ort, an dem Bundeskanzler Willy Brandt 1970 auf die Knie sank. Weil ihm „am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter“ die Sprache versagte, wie er später erklärte. Eine wortlose Bitte um Vergebung, um die sich eigentlich gar nicht bitten lässt.

Das weiß auch Steinmeier, der seine Stimme deshalb zunächst den Opfern leiht. Auf Jiddisch zitiert er das Vermächtnis der Malerin Gela Szeksztajn: „Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.“ Wenig später sei die junge Frau mit ihrer kleinen Tochter nach Treblinka abtransportiert worden.

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„Es ist schwer, heute hier zu Ihnen zu sprechen“, sagt Steinmeier vor einigen der letzten Holocaust-Überlebenden, vor Vertretern aus Politik, Religion und Zivilgesellschaft. Die Aufgabe dieser Rede und mehr noch die Geschichte selbst lasten sichtbar auf Steinmeier. Niemand kann in den Bundespräsidenten hineinschauen. Aber wer ihn da reden sieht, mit der leuchtendgelben Narzisse am Revers, dem Symbol des Ghettogedenkens, während vor ihm die ewigen Flammen lodern, der nimmt es diesem Mann schon ab, wenn er sagt: „Hier und heute mit Ihnen zu gedenken, bedeutet mir unendlich viel.“

Polen: Steinmeier beschwört das „Wunderwerk der Versöhnung“

Doch Steinmeier belässt es nicht dabei, in „tiefer Scham“ an die Mordtaten zu erinnern, die Deutsche im Namen Deutschlands verübt haben, und sich „in tiefer Trauer vor den Toten zu verneigen“. Er beschwört auch das „Wunderwerk der Versöhnung“.

Frank Walter Steinmeier spricht als erster Bundespräsident 80 Jahre nach dem Warschauer Ghettoaufstand am Mahnmal für die Opfer. Polens Präsident Andrzej Duda (Mitte), seine Frau Agata Kornhauser-Duda und Israels Präsident Isaac Herzog (li)hören aufmerksam zu.
Frank Walter Steinmeier spricht als erster Bundespräsident 80 Jahre nach dem Warschauer Ghettoaufstand am Mahnmal für die Opfer. Polens Präsident Andrzej Duda (Mitte), seine Frau Agata Kornhauser-Duda und Israels Präsident Isaac Herzog (li)hören aufmerksam zu. © AFP | JANEK SKARZYNSKI

An Herzog und Duda gewandt, erklärt er: „Viele Menschen in Ihren Ländern, in Polen und Israel, haben uns Deutschen trotz dieser Verbrechen, trotz des Menschheitsverbrechens der Shoah, Versöhnung geschenkt. Welch unendlich kostbares Geschenk!“ Aber auch mit dem Dank ist nicht alles gesagt. Es gelte, die Verantwortung für die Zukunft anzunehmen, mahnt Steinmeier. „Die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte lautet: Nie wieder! Nie wieder Rassenwahn, nie wieder entfesselter Nationalismus, nie wieder ein barbarischer Angriffskrieg.“

Putin nennt Steinmeier nicht offen beim Namen

Das zielt auf Wladimir Putin, den Steinmeier offen beim Namen nennt. Russlands Präsident habe die Werte von Freiheit und Demokratie verhöhnt. In Polen und Israel zweifelt wohl niemand daran, dass es sich so verhält. Und doch ist offenkundig, dass Steinmeier einen schmalen Grat beschreitet, wenn er in einer Gedenkrede an die Opfer der historischen deutschen Menschheitsverbrechen über die Opfer der gegenwärtigen russischen Aggression spricht. Wenn er behauptet, dass „wir Deutsche unserer Verantwortung für die Verteidigung von Frieden und Freiheit gerecht werden“.

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Der 96-jähirge Holocaust-Überlebende Marian Turski, von Krankheit gezeichnet, mahnt in seiner Ansprache: „Erinnern wir uns stets daran, dass niemand ungestraft gleichgültig sein kann.“ Turski bezieht das auf den Holocaust damals und den Krieg in der Ukraine heute. Niemand dürfe dazu schweigen. Das tut Steinmeier auch nicht. Aber in Polen ist nicht vergessen, dass er sich als Außenminister stets für ein gutes Verhältnis zu Moskau stark gemacht hat. Er war nicht gleichgültig gegenüber Mahnungen aus Warschau und Kiew. Aber er war aus polnischer Sicht eben doch zu unaufmerksam.