Berlin. Kanzler Scholz trat in der Krisendiplomatie bisher nicht in Erscheinung. Europas inoffizieller Chefdiplomat war ein anderer Politiker.

Bei Beobachtern der internationalen Spannungen mit Russland waren zuletzt Zweifel an Deutschlands Standpunkt aufgekommen. Nur leicht ironisch wurde etwa im Netz „Wo ist Scholz?“ gefragt, da der Bundeskanzler öffentlich kaum zu sehen war, während etwa der französische Präsident Emmanuel Macron als inoffizieller europäischer Chefdiplomat intensiv Krisengespräche führte, um den befürchteten Angriff Russlands auf die Ukraine zu verhindern.

Aus Berlin war lediglich zu hören, dass die Ukraine zwar Schutzhelme bekomme, aber keine tödlichen Waffen. Zusammen mit dem Schweigen des Kanzlers wurde dies von manchen Partnern als Wankelmütigkeit Deutschlands gegenüber seinem Gaslieferanten Russland gedeutet.

Ist Deutschland ein unzuverlässiger Partner?

Jan Dörner fordert mehr sichtbares Engagement des Kanzlers.
Jan Dörner fordert mehr sichtbares Engagement des Kanzlers. © Privat | Privat

Ist der größte Staat der Europäischen Union inmitten der ernsthaftesten Bedrohung des Friedens in Europa seit Jahren also ein unverlässlicher Partner und hat einen Kanzler, der zwar Mindestlohn kann, aber nicht internationale Krisen?

Nein, hieß es dazu in den vergangenen Tagen aus der Regierung und dem SPD-Umfeld von Olaf Scholz, der Bundeskanzler arbeite hinter den Kulissen intensiv an einer friedlichen Lösung des Konflikts.

Abgesehen von der Corona-Pandemie beanspruche derzeit kein Thema den Regierungschef so sehr wie die Sorge um den Frieden in Osteuropa. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt die Bundesregierung mit der Begründung ab, sie seien in dieser Phase der intensiven Gespräche das falsche Signal.

Scholz reist nach Washington, dann nach Kiew und Moskau

Nachdem Scholz dann Mitte der Woche mit einem Interview in den TV-Spätnachrichten den Beweis lieferte, dass es ihn noch gibt, greift der Bundeskanzler nun auch sichtbar in die rege Krisendiplomatie ein: Scholz ist am Montag bei US-Präsident Joe Biden zu Gast, eine Woche später reist er in die Ukraine, um schließlich am Tag darauf in Moskau mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin zu sprechen.

Dazwischen liegen ein Dreiertreffen in Berlin mit Macron und dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda sowie ein Empfang der Staats- und Regierungschefs der drei baltischen Staaten im Kanzleramt.

Der Kanzler muss eine führende Rolle einnehmen

Es ist höchste Zeit, dass Scholz eine führende Rolle in dem Bemühen einnimmt, eine kriegerische Auseinandersetzung zu verhindern. Zwar wird in der Bundesregierung darauf verwiesen, dass die regen Kontakte Macrons mit Putin Teil einer abgesprochenen „Choreographie“ seien. Doch der Kanzler darf diese Krise nicht allein anderen überlassen.

Mit Merkels Abschied ist Moskau eine vertraute Ansprechpartnerin in Europa verloren gegangen. Scholz sollte sich trotz der tiefen Meinungsverschiedenheiten darum bemühen, eine eigene Gesprächsebene mit Putin zu finden. Die aktuelle Krise wird nicht der letzte Konflikt mit Russland sein.

Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Ende Januar in Berlin.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Ende Januar in Berlin. © Getty Images | Pool

Waffenlieferungen und Nord Stream 2 sind Streitpunkte

Aber auch im transatlantischen Verhältnis braucht es einen starken Kanzler. Aus Sicht der USA befindet sich Deutschland mit seinem strikten Nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine und der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 auf einem Sonderweg.

Um diesen ohne Schaden für das transatlantische Verhältnis weiter gehen zu können, muss sich Deutschland als selbstbewusster und zugleich verlässlicher Akteur in Europa behaupten. In einer Welt, in der sich Russland und China zusehends annähern, gewinnt die Verbindung Deutschlands mit den USA an neuer Bedeutung.

Scholz hat den Anspruch, mehr als nur eine Legislaturperiode zu regieren, er will ein Jahrzehnt prägen. Der Kanzler sollte schnell eine Debatte darüber anstoßen, welche Rolle in Deutschland in künftigen Krisen spielen kann und will – diplomatisch, politisch und notfalls auch militärisch. Diese Aussprache müssen aber nicht nur die Ampel-Parteien führen, sondern die gesamte deutsche Öffentlichkeit.