Berlin. Die Wehrpflicht ist ausgesetzt, gefühlt: für immer. Tatsächlich gehört sie wieder auf die Tagesordnung, kommentiert Miguel Sanches.

Wer die Debatte über die Wehrpflicht befeuert, zäumt das Pferd von hinten auf. Oft genug: wissentlich. Das gilt auf jeden Fall für Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die eine Fachfrau ist.

Wobei: Sie hat nur erklärt, dass die Aussetzung des allgemeinen Diensts an der Waffe eine Position in Friedenszeiten ist. Was im Spannungs-und Verteidigungsfall passieren würde, ist eine andere Sache; eine, bei der ein einfaches Ja oder Nein zu kurz gesprungen (Strack-Zimmermann) wäre. Lesen Sie auch: Kann eine Wehrpflicht der Bundeswehr überhaupt helfen?

Wer das wie Christian Lindner eine „Gespensterdebatte“ nennt, sollte sich schlau machen. Es ist nicht relevant, ob sich eine Debatte für die FDP stellt oder nicht. Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit, und drängende Probleme suchen sich ihre gesellschaftlichen Mehrheiten. Was die FDP betrifft, so stellt sich am Ende allenfalls die Frage, ob sie Teil der Lösung oder des Problems ist.

Die Ausgangsfrage lautet: Was ist mit „Zeitenwende“ gemeint? Lässt Kanzler Olaf Scholz den Worten Taten folgen? Offensichtlich ist, dass Russland mehr in Schutt und Asche legt als die Ukraine, nämlich das Vertrauen und die europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte. Dem Recht des (Völker)Rechts stellt Putin das Recht des Stärkeren entgegen.

Und ganz gleich, ob er in der Ukraine Erfolg hat oder nicht, die Sicherheitslage bleibt auf absehbare Zeit prekär. Dieser Krieg verlangt uns eine grundsätzliche militärische Neuorientierung ab: Die Rückbesinnung der Nato auf ihre Aufgabe, die kollektive Sicherheit im Bündnis, und der Bundeswehr auf die Landesverteidigung.

Politik-Korrespondent Miguel Sanches.
Politik-Korrespondent Miguel Sanches.

Bundeswehr muss für alle denkbaren Fälle gerüstet sein

Um ihr gerecht zu werden, muss die Truppe durchhaltefähiger werden. Sie braucht mehr Waffen und Munition; und beides schneller als bisher. Deswegen halten der frühere Top-Diplomat Wolfgang Ischinger oder der Bundeswehrverband eine „Art“ von Kriegswirtschaft für notwendig. Gemeint ist, dass Waffen nicht in Manufaktur-Stil produziert werden, sondern in Masse und im Überfluss.

Die Bundeswehr wie einen Industriebetrieb zu führen, war ein Irrglaube, für den der Name Ursula von der Leyen steht. Es gibt keine „lean production“ im Kriegsfall. In einem bewaffneten Konflikt muss eine Armee für alle denkbaren Fälle gerüstet sein und davon ausgehen, dass der Feind den Nachschub mit aller Macht unterbinden wird.

Wenn also die Bundeswehr nicht mehr ein paar Hundert, sondern wie in den 80er Jahren ein paar Tausend Panzer braucht, benötigt sie auch mehr Besatzungen, insgesamt eine höhere Truppenstärke. Wobei man einen Soldaten nicht mit einem Kämpfer gleichsetzen darf. Hinter jedem Soldaten an der Front steht eine Kette von Kameraden, die dafür sorgen, dass er gut versorgt und betreut wird. Über kurz oder lang wird die Bundeswehr höhere Personalstärken brauchen. Sie wird ihre Rekruten nicht auf dem Arbeitsmarkt finden können: Nicht in Zeiten höherer Spannung, nicht bei sinkenden Jahrgängen, nicht in der Konkurrenz zur Wirtschaft um Fachkräfte.

Bundeswehr: Zeitenwende ist nicht eingelöst

Die Zeitenwende ist nicht eingelöst. Es ist nicht erkennbar, dass Deutschland der Nato-Selbstverpflichtung nachkommt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Es ist aber möglich, dass die Nato schon auf ihrem Gipfel in Vilnius diese Marke sogar verschärfen wird. Es ist auch kein Zufall, dass die Wehrbeauftragte die Modernisierung der Truppe nicht mehr mit 100, sondern mit 300 Milliarden Euro taxiert. Frankreich will bis 2030 sogar 400 Milliarden Euro in seine Streitkräfte investieren. Daran erkennt man, dass die Zielmarke 300 Milliarden nicht aus der Luft gegriffen ist.

Wenn der Kanzler die "Zeitenwende“ ernst meint, wird er die Frage beantworten müssen, ob dazu die Personalstärke relevant erhöht werden muss und wie das ohne Wehrpflicht gelingen soll. Die Frage stellt sich nicht 2023, vermutlich auch nicht 2024, aber spätestens zur Bundestagswahl 2025 sollte die Debatte geführt werden. Man muss den Bürgern de Zusammenhänge, die Zwänge erläutern. Die Wehrpflicht sollte nicht am Anfang, sondern am Ende der Debatte stehen. Die Vorstellung einer Neuaufrüstung ist zugegeben erschreckend. Aber realistisch.