Das Jenaer Reformhaus Tonndorf ist ein traditionsreiches Familiengeschäft. 1918 eröffnete Ella Tonndorf, eine Anhängerin der Lebensreformbewegung, den Laden am Markt. Kürzlich wurde das Geschäft für seine Unternehmensführung geehrt.

Jena. Als die blutjunge Kräuterhändlerin Ella Tonndorf im Jahr 1918 ihr neues Ladenlokal am Jenaer Markt bezieht, herrscht schneereicher Winter. Das Inventar muss sie mit dem Pferdeschlitten heranschaffen. Auf die Männer ihrer Familie kann sie beim Umzug nicht bauen. Die kämpfen im Ersten Weltkrieg.

1927 tritt Ella Tonndorf – eine mutige und progressive Frau – der neugegründeten Genossenschaft der Reformhäuser "Neuform" bei und entwickelt ihren Laden nach und nach zum Reformhaus weiter.

Inzwischen liegt das Geschäft seit fast 100 Jahren in den Händen der Familie Tonndorf und gilt als Thüringens ältestes noch existierendes Reformhaus: Inhaber ist heute Ellas Großneffe Torsten Tonndorf. Seine Brüder Heimo und Robert sind ebenfalls im Familienbetrieb beschäftigt.

Erst kürzlich wurde das Jenaer Traditionsgeschäft als Reformhaus des Jahres unter den mittleren deutschen Reformhäusern ausgezeichnet. Preiswürdig erschien der Jury die moderne und umweltfreundliche Unternehmensführung der Tonndorfs. So konnte das Geschäft durch Umbaumaßnahmen, wie die neue Wärmerückgewinnungsanlage, im vergangenen halben Jahr 3500 Kilowattstunden einsparen. "Das entspricht dem Energieverbrauch eines Einfamilienhauses im Jahr", sagt Torsten Tonndorf.

Er und seine Brüder entstammen einer alten Ostthüringer Familie, die sich seit dem 16. Jahrhundert als Fuhrleute und Kräuterhändler im Raum Jena ihren Broterwerb sicherte. Seit dem Mittelalter war das Jenaer Umland für seinen Kräuteranbau bekannt. Hier wurden unter anderem Pfingstrosen angepflanzt, die damals noch als reine Heilpflanzen galten und gegen Gicht und Epilepsie, aber auch gegen die Pest helfen sollten.

Vom Ururgroßvater der Tonndorfs sei überliefert, dass er im 19. Jahrhundert seinen Kräuterhandel gar bis nach Russland betrieben habe, sagt Torsten Tonndorf. "Eine Tour mit dem Pferdefuhrwerk dauerte damals ganze zwei Jahre."

Ella Tonndorf geht schließlich 1927 mit dem Beitritt zur Vereinigung Deutscher Reformhäuser neue Wege. Sie ist Anhängerin der sogenannten Lebensreformbewegung, eine Bewegung, die sich der naturgemäßen Lebensweise verschrieben hat. "Die Industrialisierung hatte viele Dinge hervorgebracht, die alles andere als gesund waren", erklärt Torsten Tonndorf die Motive. Der Lebensreformbewegung gehörten damals ganz unterschiedliche Strömungen an: der Vegetarismus ebenso wie die Naturheilkunde oder die Freikörperkultur.

Zu den wichtigen Vorläufern der heutigen Reformhäuser zählte die "Gesundheits-Zentrale" in Berlin. Ihr Erfinder, der Textilladenbesitzer Carl Braun, war Mitglied des Berliner Naturheilvereines. Eines Tages baten ihn die Vereinsmitglieder, in seinem Geschäft doch auch Produkte der Naturheilkunde, wie zum Beispiel Tücher für Prießnitz-Packungen, zu offerieren.

Dieses außergewöhnliche Angebot zog bald auch Vegetarier an, die vor allem fleischfreie Lebensmittel, wie Trockenfrüchte, nachfragten. Durch das große Interesse animiert, gründete Carl Braun schließlich 1887 – vor 125 Jahren – ein eigenständiges Geschäft für seine Naturprodukte: die "Gesundheits-Zentrale".

Diese neuartigen Lebensansätze führten zu vielen neuen Lebensmitteln, die heute selbstverständlich sind. Müsli und Vollkornbrot sind ebenso Erfindungen der Lebensreform wie die rein pflanzliche Margarine als Butter-Alternative für Vegetarier oder der Traubensaft als alkoholfreier Wein für Antialkoholiker.

Gesund, natürlich, vollwertig, für diese Ideale stehen die Reformhäuser bis heute. Auch Ella Tonndorf wurde diesem Anspruch gerecht. Davon zeugen beispielsweise noch ihre alten Tee-Rezepturen, nach denen die Tonndorfs heute wieder ihre hauseigenen Tees herstellen, etwa Stilltees und Fastentees, aber auch Tees für werdende Mütter und den Ziegenhainer Tee. Selbst Ellas alten Kräuterschnaps produziert das Familienunternehmen inzwischen wieder: Als "Jenaer Kräuterbitter" entsteht der Schnaps in Kooperation mit dem Jenaer Braugasthof Papiermühle, der den Bockbierbrand hierfür beisteuert.

Zu Ellas Zeiten wurden einzelne Kräuter, wie Schachtelhalm, noch von Hand gesammelt. Regelmäßig, wenn der Leutra-Bach zur Straßenreinigung Teile der Jenaer Innenstadt durchflutete, hieß es für die Belegschaft: Kräuter sammeln! Wahrscheinlich auch noch für Torsten Tonndorfs Vater, der schon als 14-Jähriger während des Zweiten Weltkrieges im Familienbetrieb anfing.

Und auch Torsten Tonndorf selbst und seine Brüder haben so manche Stunde ihrer Kindheit im Laden verbracht, etwa um Tee abzupacken. Diese enge familiäre Verbundenheit hat sicher dazu beigetragen, dass Inhaber Tonndorf das Geschäft auch durch die schwierigen Jahre nach der Wende erfolgreich gesteuert hat und sogar einen zweiten Standort in Gera eröffnen konnte.

Ob sein ältester Sohn den Familienbetrieb fortführen wird, ist noch ungewiss. Den Online-Shop des Ladens hat er schon in Eigenregie eingerichtet.