Stuttgart/Jena. Dieter Petersdorf über die WM in Stuttgart, die Zukunft seiner Sportart und warum er kein Nestbeschmutzer sein will

Die Turnelite traf sich vom 4. bis 13. Oktober in Stuttgart zu den Weltmeisterschaften. Deutschland richtete nach 1966, 1994, 1989 und 2007 zum fünften Mal ein Weltchampionat aus. Es war eine WM mit hohem Stellenwert.

Welches Fazit ziehen Sie aus dieser Turn-WM mit dem großen Untertitel Olympiaqualifikation für Tokio 2020?

Gerade unter diesem Aspekt waren es in sportlicher Wertung die besten und zum Teil spannendsten Weltmeisterschaften überhaupt. Sie waren spektakulär, geprägt von unglaublichen Schwierigkeiten und einer hohen Leistungsdichte. Bei den Männern ist Russland wieder führend, die Chinesen und ­Japaner schickten junge Aktive ins Rennen, riskierten dabei noch Stabilitätsfehler. Taiwan wartete mit einer überraschenden Leistungssteigerung auf.

Und die deutschen Turner? Was war mit ihnen?

Die deutschen Turner kamen mit dem Schrecken davon. Die Schwierigkeitsentwicklung bei den Frauen ist enorm. Turnen könnte heute auch heißen „Cirque du Soleil“. Es waren Tage mit toller Werbung für diese Sportart. Höchstes internationales Lob erhielten der Deutsche und der Schwäbische Turnerbund für die perfekte Organisation und die mediale Ausstrahlung. Die Weltelite wurde gefeiert von einer großartigen Kulisse. Viele ehemalige Helden erhielten Ehreneinladungen und Würdigungen. Das bleibt hängen. Eine WM im Kontrast zur Leichtathletik in Doha.

Bleiben wir bei der sportlichen Wertung und der Einordnung der deutschen Aktiven, die erstmals eine Heim-WM ohne Edelmetall beendeten. Katerstimmung im Deutschen ­Turnerbund?

So simpel kann man nicht werten. Dazu ist die Sportart zu komplex und zu kompliziert.

Dann der Reihe nach.

Russland bei den Männern und die USA mit der überragenden Simone Biles an der Spitze waren die mit Abstand erfolgreichsten Nationen mit je fünf Goldmedaillen. WM-Titel gingen an insgesamt sieben Nationen, ­Medaillen holten sich Aktive aus sechzehn Ländern. Leider war Deutschland bei der Medaillenvergabe außen vor.

Also doch Katerstimmung und schonungslose Abrechnung im Turn-Team Deutschland?

So würde ich das nicht stehenlassen, auch wenn die Ergebnislisten nicht lügen. Im Turnen entscheiden oft kleinste ­Ungenauigkeiten, oder zum Beispiel Stände am Ende der Übung, über das Ranking in der Medaillenvergabe. Natürlich arbeitet man in allen Nationen an diesen Dingen. Aber noch haben die Aktiven keinen Chip im Kopf, der von außen programmiert wird.

Wie fällt also ihre differenzierte Wertung der deutschen Turnerinnen und Turner aus?

Bei den Frauen wurde mit Platz neun in der Mannschaft und zwei Gerätefinals die positive Aufwärtsentwicklung untermauert und die sichere Olympiaqualifikation eingefahren. Verbandstrainerin Ulla Koch fährt hier seit Jahren mit engagierten Trainern in den Vereinen einen guten Kurs. Ich nenne hier gern die erfolgreiche Chemnitzer Trainerin Gabi Frehse, die anfangs unter einfachsten Bedingungen schon viele Turnerinnen in die Weltspitze führte. Natürlich gilt dem Streben nach Medaillen höchste Priorität. Das ist das erste Abrechnungskriterium, aber zwei deutsche Turnerinnen behaupten sich in den Top Ten der Weltspitze. ­Elisabeth Seitz mit Rang sechs und die Kölnerin Sarah Voss mit Platz zehn gehören dazu.

Schwingt da bei Ihnen etwas Wehmut mit, als Trainer ­immer nur mit Männern ­gearbeitet zu haben?

Nein. Ich denke, dass ich nie so hart mit Frauen trainieren könnte wie mit den Männern, obwohl Frauen sicher belastbarer sind.

Ist der mediale Fokus allein auf Simone Biles gerechtfertigt?

Die USA zelebrieren seit Jahren das Frauenturnen als große Show und entwickeln dafür kontinuierlich die passenden Mädchen. Aber Simone Biles stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten. Sie turnt wie von einem anderen Stern. Ihr „Triple-Double“ am Boden, ein Doppelsalto mit dreifacher Schraube, wird auch so bald kaum ein anderer Turner springen. Mit nur 1,42 m Größe und diesen athletischen Potenzialen ist sie ein Jahrhunderttalent. Ihre Bilanz ist unglaublich. Fünf Mehrkampftitel, sechstes WM-Gold. Sie deklassiert mit der Traumnote von 58,999 Punkten die Konkurrenz um zwei Punkte. Und die sind mit der Chinesin Tang und der Russin Melnikowa hochkarätig. Aber noch einmal: Elisabeth Seitz und Sarah Voss turnten sich in diesen Elitekreis und erreichten zwei Finalplätze.

Aber mit Blick auf die Männer sehe ich doch Sorgenfalten bei Ihnen im Gesicht?

Auch hier ist ihre Zeissbrille ­etwas zu scharf geschliffen (lacht). Richtig ist aber, dass beim Deutschen Turnerbund und den beteiligten Akteuren ein wahrer Felsblock vom Herzen fiel, als am Tag zwei der Qualifikation mit hauchdünnem Vorsprung der zwölfte Platz geschafft war. Ein Scheitern auf dem Weg nach Tokio wäre ein Erdrutsch gewesen. Dank der verpatzten Sprünge der Niederländer erreichten unsere Turner das rettende Ufer.

Spüre ich da noch immer viel Herzblut eines ehemaligen Trainers in Ihrer Wertung?

Sicher, aber sehen Sie: Da hängt so vieles von dieser Qualifikation ab. Die Planung für Tokio kann starten, eine Abstufung und Kürzung der Fördermittel erfolgt nicht. Die öffentliche Wahrnehmung und Fragen des Sponsorings wären weitere Faktoren. Ein Wackler, ein Patzer, ein Sturz hat also solche komplexe Auswirkungen.

Doch trotz Tokio-Zulassung bleibt es das schlechteste ­Ergebnis einer Olympiaqualifikation deutscher Turner.

Sicher. Die Leistungen entsprachen dem derzeitigen Leistungsstand. Andreas Toba mit seinem 19. Platz im Mehrkampf überzeugte. Zwei Gerätefinals sind erfreulich, aber nicht unser ­Anspruch. Die Stellschrauben heißen: Aufstockung in der Schwierigkeit und Stabilität.

Sind die Ausfälle durch verletzte Turner nicht auch ein Grund für dieses Ergebnis?

Verletzte Leistungsträger hatten alle Mannschaften. Ja, die Ausfälle des Erfurters Nils Dunkel, des Münchners Ngyen und des Chemnitzers Bretschneider ­waren nicht kompensierbar.

Warum nicht?

Wir hatten erfolgreiche Jahre mit Hambüchen, Ngyen, Boy und anderen. Aber in dieser Zeit haben wir es nicht geschafft, eine konkurrenzfähige ­Generation aufzubauen.

Aber Höhen und Tiefen gibt es bei fast allen Nationen.

Unbestritten. Aber bei einem so großen und reichen Deutschen Turnerbund mit seinen rund fünf Millionen Mitgliedern wäre eigentlich viel Geld im Topf, um ein funktionierendes System zu schaffen von den Turntalent-Schulen bis zum A-Kader.

Am Geld liegt es demnach nicht, oder?

Viel schlimmer. Uns fehlen die hoch qualifizierten Trainer mit gerechter Bezahlung. Unser Trainermarkt ist leer. Gute ­Trainer wechselten aus vielen Klubs in das Schulsystem und verdienen dort ungleich mehr. Von einem Aus- und Fortbildungssystem, wie ich es durchlaufen habe, kann ich nur als „Märchenonkel“ erzählen.

Wie geht es weiter mit dem deutschen Turnen?

Es gibt viele positive Ansätze, die ich optimistisch werten möchte.

Die wären?

In den Turnzentren arbeiten noch immer gute Trainer mit ­hohem Einsatz an der Entwicklung junger Talente. In Halle führte Hubert Brylok, ein ehemaliger Jenaer Turnschüler, in relativ kurzer Zeit einen Nick Klessing in ein WM-Team und er erreichte das Gerätefinale an den Ringen. Der junge Berliner Karim Riba rechtfertigte seine WM-Nominierung, Lucas ­Dauser zog mit Höchstwert in das Gerätefinale am Barren. ­Aktuell verletzte Turner werden wieder einsatzbereit sein.

Eingangs unseres Gesprächs haben Sie das moderne Kunstturnen mit dem weltberühmten Show-Zirkus „Cirque du Soleil“ verglichen. Warum?

Im Zirkus gilt die höchste Konzentration dem Gelingen der Aktion und damit dem Erhalt von Leben und Gesundheit – im Kunstturnen erhöht sich das durch den Störfaktor von gnadenlosen Punktrichtern. Aber bitte nicht ernst nehmen, denn dann wäre ich als Ex-Kampfrichter ein Nestbeschmutzer.