Gera. Seit 40 Jahren ist die Stadt Gera die Wahlheimat von Schriftstellerin Annerose Kirchner

„Nun sind es doch 40 Jahre geworden“, resümiert Schriftstellerin Annerose Kirchner und feiert sozusagen bei ihrer Gera-Zeit in diesem Jahr ein Jubiläum. Für sie ist es eine „Liebe auf den zweiten Blick“. Ihre Kindheitstage verbrachte die gebürtige Leipzigerin in Zella-Mehlis. Als Vierjährige zog sie mit ihrer Mutter in das Städtchen, unternahm dort mit 14 ihre ersten Schreibversuche und entdeckte die Liebe zur Thüringer Landschaft.

Die Weichen für Gera sollten 25 Jahre später gestellt werden: Nach ihrem Studium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ zog Annerose Kirchner nach Gera. Der Grund: Sie wollte ihrer Geburtsstadt Leipzig nah sein. „Von Gera wusste ich lediglich, es ist eine große Stadt, es fließt die Weiße Elster, es fährt eine Straßenbahn, Otto Dix ist hier geboren und es gibt ein Theater“, erinnert sich die Literatin über ihre Ankunft im August 1979. Diese Aspekte hätten schließlich den Ausschlag gegeben. Rückblickend meint sie: „Die Stadt war mir fremd, insofern hatte ich große Probleme anzukommen.“ Das Theater fing die junge Literatin damals auf und wurde zu einer der wichtigsten Stationen ihres Lebens. Fast zehn berufliche Jahre – erst als Dramaturgiesekretärin, dann als Pressereferentin – hat sie dort verbracht. „Ich erkundete das Haus von unten bis oben, liebte es sehr“, blickt die Autorin zurück. Auch über die Stadtgeschichte sei sie Gera näher gekommen. „Ich habe mich mit den Villen, mit den Persönlichkeiten wie Eduard Amthor beschäftigt, habe nachgelesen und bin umher gewandert.“

Nun, 40 Jahre später, „ist es immer noch möglich, hier vieles zu entdecken“, versichert Annerose Kirchner. Gera sei zwar keine Stadt für Literaten, aber eine, in der man als Schriftsteller gut arbeiten könne – man werde in Ruhe gelassen, könne sozusagen ohne Ablenkung kreativ sein. Wenngleich die heute 68-Jährige bedauert: „Hier liegt der Fokus insbesondere auf der Bildenden Kunst. Auf lyrischer Ebene finde ich leider keine Gleichgesinnten. Das macht mich etwas traurig. Deshalb habe ich auch viele Kontakte nach Weimar, Leipzig und Berlin aufgebaut“, gibt sie zu. Ein Künstlerstammtisch ähnlich wie in Weida würde der Autorin, die alle ihre bisherigen Bücher in ihrer Wahlheimat geschrieben hat, sehr gefallen. Einen Lieblingsplatz in der Stadt fand sie schon längst für sich: Brendel‘s Buchhandlung. Dort, im heimeligen Buchkeller oder auch im Eiscafé Bernardo, entsteht so manche Notiz. Selbst wenn sie den Gedanken an einen nochmaligen Neustart, vielleicht in Weimar oder in Leipzig, nicht gänzlich beiseite schieben kann – ist sie auf Reisen, überfällt sie stets ein wenig Heimweh nach Gera.

Aber auch etliche ihrer bis dato zehn veröffentlichten Bücher wäre ohne Gera nicht entstanden. „Dix und Dix“, ihr Werk über Geras berühmtesten Sohn der Stadt und Menschen, die den selben Nachnamen wie er tragen. Oder das Buch „Spurlos verschwunden“ über die Wismut, für das sie fünf Jahre lang akribisch recherchierte und mit zahlreichen Zeitzeugen sprach. „Das Thema hatte mich sehr gereizt. Mein Förderer und Freund Wulf Kirsten prophezeite mir, das wird dein Buch“, erzählt sie. Der Weimarer Schriftsteller sollte Recht behalten: Das Projekt gestaltete sich zu ihrer bisher größten literarischen Herausforderung, inklusive Schreibpausen und Zweifeln – jedoch auch zu ihrer erfolgreichsten Publikation. Die erste Auflage 2010 war innerhalb weniger Monate vergriffen. 2017 gab es die zweite Auflage.

Neugier auf Menschen, auf Schicksale treibt Annerose Kirchner bis heute an. Ideen für neue Bücher hat sie genügend. Seit einigen Monaten frischt sie ihre Russischkenntnisse auf. In nächster Zeit möchte sie für mehrere Wochen nach Moskau reisen, um dort zu recherchieren. Ausgelöst hat diesen Wunsch die russische Popsängerin Kapitalina Lazarenko. Sie war in den 50er- bis 70er-Jahren in ihrer Heimat ein Star und gastierte auch in der DDR. Annerose Kirchner entdeckte sie zufällig im Internet und begeistert sich seitdem für diese außergewöhnliche Persönlichkeit und ihren Gesang.

Ein Tagebuch schwebt ihr vor – ein neues Terrain für die Autorin. Auf ein solches wagte sie sich erst im vergangenen Jahr anlässlich der Sonderausstellung „Zimelien“ in Geras Kunstsammlung. Ihre eigens dafür geschriebenen philosophischen Reflexionen über Leben, Krieg und Liebe avancierten zum Publikumsmagnet. „Es floss einfach. Da war ich selbst erstaunt über mich“, meint sie schmunzelnd und freut sich noch heute, dass vor allem Leute, die noch nie etwas Literarisches von ihr gelesen hatten, sich begeistert zeigten. „Nun sind es schon 40 Jahre geworden“, meint sie über ihre Liebe auf den zweiten Blick.

Für den 13. November ist sie übrigens bei Radio F.R.E.I. in Erfurt eingeladen und wird über ihr Leben und Schaffen in Thüringen erzählen.

www.annerose-kirchner.de