Greiz. Theaterherbst-Schauspielwerkstatt „Marat/Sade“ fasziniert mit tiefsinnigem Stück. Viel Applaus für Kurzfilme

Die Zuschauer sind sicher. Der Elektrozaun steht unter Hochspannung. Türen und Fenster sind verriegelt und vergittert. Hinter dem Sicherungsbollwerk haben sich fünf Insassen einer Nervenheilanstalt versammelt, um ihrer Schauspielfreude Ausdruck zu verleihen. Peter Weiss’ geschichtsphilosophisches Drama „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ steht Pate für die von Georg Peetz, Falkensee, geleitete Schauspielwerkstatt des Theaterherbstes. Was Spieler und Regie aus dem gehaltvollen Text zaubern, ist tiefsinnige und zugleich humorvolle Bühnenkost höchster Güte.

Da sind sie nun, Jean Paul Marat (Marko Nachsel), einer der Führer der Französischen Revolution, Gleichheits- und Gerechtigkeitsfanatiker; Marquise de Sade (Volker Schmidt), Zyniker und radikaler Individualismusverfechter, der längst gelangweilt ist von der Revolution; Charlotte Corday (Maren Barnikow), einstige Republikanerin und Marat-Attentäterin, die Nonne Jaqueline Roux (Hanna Groß), immer noch glühend-gläubige Revoluzzerin, sowie Simonne Evrard (Irmi Müller), die Frau Marats. Sie alle haben ihre psychischen Macken, die sie in die Heilanstalt gebracht haben, wo sie nun unter der Regie des Herrn de Sade die letzten Lebensstunden Marats inszenieren.

Was das Stück auszeichnet und gleichzeitig zur nicht ganz leichten, trotzdem großartigen Kost macht, sind die verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen, die verwoben und verschachtelt werden. Mit den Spielformen des epischen Theaters entwickelt sich ein Schauspiel im Schauspiel, das außerdem nochmals erweitert wird, wenn Corday, Evrard und Roux sich rote Clownsnasen überstülpen und zum Beispiel zum Volk werden, das, egal ob Nationalsozialismus oder DDR, ihren Führern hinterherdackelt, oder das genervt von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu blutrünstigen Revoluzzern wird, um nach dem Umsturz wieder in die gleiche Lethargie zu verfallen wie vor der Revolution.

Überhaupt, die Dispute zwischen Marat und Sade sind, auch wenn Weiss’ Stück zeitlich um die Französische Revolution angelegt und bereits 1964 erschienen ist, hochaktuell – und 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR erst recht. Es ist ein Genuss zu erleben, wie ausnahmslos alle Spiele in ihren Rollen aufgehen, wie sicher sie von einer zur anderen Ebene und wieder zurückspringen, wie präzise und auf Punkt und Komma exakt sie Sprechchöre und involvierte Lieder vortragen. Am Ende überleben Marat und seine Ideen von der Gleichheit der Menschen den Mordanschlag. Gemeuchelt wird diesmal der Regisseur de Sade – und somit der Strippenzieher. Die ohne Leitung dastehenden Insassen des Hospizes strecken ihre Hände durch den Elektrozaun und fordern mit gruslig-irrem Ton im Chor: „Wir müssen die Welt auf den Kopf stellen, auf dem Kopf sieht sie sicher besser aus!“ Das Rad dreht sich weiter. Ob der Zaun es aufhalten kann, ist fraglich.

Auch die Kinder und Jugendlichen der Filmwerkstatt unter Leitung Pedro Deltell Colomer und Team zeigten im UT99-Kino die Ergebnisse ihrer Arbeit. Und die waren beeindruckend und überzeugend. Zwei Kurzfilme – ein sehr auf Musik setzender Streifen und eine Musical-/Märchenkomödie – und mehrere szenische Betrachtungen waren entstanden, die eine hohe Qualität aufwiesen. Zurecht gab es für die Schauspieler und Werkstattleiter von den zahlreichen Besuchern im Kino langen Applaus nach der Aufführung auf der großen Kinoleinwand.