Jena. Über den Mathematiker Otto Stamfort - ein fast vergessener Hochschullehrer der Jenaer Universität.

„Mich versuchte er nie umzubiegen. Er respektierte, dass ich politisch auf einem anderen Dampfer war“, schrieb Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl in seinen „Erinnerungen 1930 – 1982“ über Otto Stamfort. Wöchentlich habe er ihn besucht, seinen Mathelehrer, den „überzeugten Marxisten“, um mit ihm und einem kleinen Kreis von anderen Schülern über Politik und Philosophie zu diskutieren. – In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war Otto Stamfort Mathematiklehrer an der Oberrealschule in Ludwigshafen.

Wer war Otto Stamfort? Jude, Kommunist, Mathematiklehrer, Professor? Der 1901 in Stemmen (Lippe) geborene und 1981 in Jena gestorbene Stamfort ist hier nahezu vergessen. Hingegen Altbundeskanzler Helmut Kohl ihm eine längere Passage in seinen Erinnerungen widmete.

Otto Stamfort war der älteste Sohn des jüdischen Kaufmanns Bernhard Stamfort. Im niedersächsischen Rinteln legte er 1922 sein Abitur ab, bevor er in Würzburg und Göttingen Mathematik und Physik studierte. Nach dem Staatsexamen folgte das Pädagogische Examen in Hannover. Von 1927 unterrichtete der junge Lehrer Mathematik an Schulen in Göttingen, Hannover, Linden und Aurich. Nebenher beschäftigte er sich wissenschaftlich mit den philosophischen und pädagogischen Grundansichten Erhard Weigels, ein Thema, zu dem er 1931 in Braunschweig promoviert wurde. Doch schon zwei Jahre später war Schluss mit diesem Berufsweg. Der junge Otto Stamfort wurde im April 1933 fristlos entlassen wegen seiner jüdischen Abstammung. „Ich floh noch im selben Monat nach Frankreich, um der Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen“, schreibt er 1963. Wie richtig dieser Weg war, erwies sich kurz darauf. Seine Eltern wurden ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie auch verstarben.

In Paris schloss sich Stamfort dem Verband deutscher Lehreremigranten an, in dem auch Anna und August Siemsen organisiert waren. Ab 1935 lernte er in einer Feinmechanikerschule in Paris und arbeitete dann als Hilfsschlosser bei der Eisenbahn und in der Materialausgabe einer Fabrik, wo er sich eine schwere Handverletzung zuzog, die ihn Zeit seines Lebens behinderte. Im November 1940 musste er in eine französische Arbeitskompanie einrücken, deren Insassen später an die Deutschen ausgeliefert wurden. Aber Anfang 1943 gelang Otto Stamfort die Flucht. „Bis zur Befreiung Frankreichs lebte ich dann illegal“, schrieb er später. Inzwischen war er auch verheiratet mit Hilde Ahrens, die er in Paris kennengelernt hatte. Nach der Befreiung Südfrankreichs wurde er Sekretär und Präsident des Komitees „Freies Deutschland“ in Toulouse. Nebenher gab er Nachhilfeunterricht.

Erst 1946 kehrten dann Otto und Hilde Stamfort nach Deutschland zurück. Otto Stamfort wurde Studienrat in Ludwigshafen und ehrenamtlich Landesleiter der Freien Deutschen Jugend in Rheinland-Pfalz. „Er wohnte 1946, als er aus dem Exil nach Deutschland kam, bis 1948, als er in die Sowjetische Besatzungszone übersiedelte, nur hundert Meter entfernt von meinem Elternhaus, neben dem langen Garten“, schrieb Helmut Kohl. Stamfort habe großen Eindruck auf ihn gemacht.

Stamfort kam im Mai 1948 nach Weimar, wurde Oberreferent im Ministerium für Volksbildung des Landes Thüringen, ein Jahr später Leiter der Schulabteilung. Schon vor der Auflösung des Landes Thüringen wechselte er nach Jena. In einem Schreiben heißt es: „Mit Ihrem Einverständnis versetzen wir Sie ab 15. Januar 1951 als Dozent für Mathematik und Physik an die Arbeiter- und Bauernfakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.“ Bald wird Stamfort auch zum zweiten Studiendirektor an der ABF ernannt, verantwortlich für den naturwissenschaftlichen Teil der Ausbildung. Denn inzwischen studieren dort etwa 1200 Studenten.

In den Folgejahren wechseln die Funktionen. Stamfort ist Dozent an der Philosophischen Fakultät, Prorektor für Studienangelegenheiten. 1959 wird er zum Professor mit Lehrauftrag für das Fach Methodik des Mathematikunterrichts ernannt, 1961 zum Direktor der Abteilung Unterrichtsmethodik am Institut für Pädagogik. Stamfort bildet nun Mathematiklehrer aus, den Löwenanteil seiner Zeit aber braucht das Amt als Prorektor.

„Er hat es verdient, dass man an ihn erinnert“, sagt Walter Börner, der von 1951 bis 1961 in Jena Mathematik studiert hat. Stamfort habe immer ein offenes Ohr für die Studenten gehabt. „Aber, er hat auch geschaut, ob die Studenten arbeiten“, erzählt Börner. „Er ist auch schon mal gegen 8 Uhr ins Studentenwohnheim gekommen, um zu schauen, ob die Studenten aufgestanden sind und zur Vorlesung gehen. Notfalls hat er sie geweckt.“ Und Stamfort habe eingeführt, dass es Mathematik-Vorlesungen auch für Philosophie-Studenten gab. „Das war für mich ein großes Plus für ihn, dass die Philosophen nicht nur Philosophie erfahren, sondern auch die davon unabhängige Mathematik erlernen mussten“, sagt Börner über die Stamfortsche Vorlesung „Philosophische Probleme der Mathematik“. Er habe ihn persönlich als sehr sympathisch empfunden, als einen, der keine großen Töne von sich gab, sondern eher einen Zug zur Bescheidenheit hatte.

Aus dieser Zeit stammt auch eine Erinnerung von Werner Riebel aus Jena. Er sei 1961 als Sektionsleiter für die Leichtathleten der Hochschulsportgruppe bei Prorektor Stamfort gewesen. Da sei es um die Vorbereitung eines Wettkampfes in Garmisch gegangen. Der Prorektor musste die Mannschaftsliste „absegnen“. Hinter dem Namen des besten Sprinters und Weitspringers stand ein „Nein“. Er habe den Prorektor um ein Gespräch gebeten. „Professor Stamfort fragte, ob ich garantieren könne, dass dieser beste Sprinter von dieser Wettkampfreise auch wieder nach Jena zurückkehren werde. Ich antwortete, dass ich das garantiere und konnte daraufhin eine Korrektur der Entscheidung Stamforts erreichen“, sagt Riebel.

Stamfort war aber mit seinem Prorektoramt offenbar nicht so recht glücklich, wollte lieber wieder mehr in der Lehre tun, Mathematiklehrer ausbilden. Rektor Otto Schwarz schrieb dann am 28. Juni 1961 ans Ministerium: „Wie schon mehrfach im Gespräch Ihnen gegenüber geäußert, halte ich eine Neuordnung im Prorektorat für Studienangelegenheiten für notwendig. Abgesehen davon hat der gegenwärtige Prorektor für Studienangelegenheiten, Herr Prof. Dr. O. Stamfort, in den letzten beiden Jahren wiederholt den Wunsch geäußert auszuscheiden und sich seiner Tätigkeit als Professor in der Fachmethodik für Mathematik zu widmen.“ Schließlich wird Stamfort im September 1961 als Prorektor entpflichtet.

Gute Erinnerungen an Otto Stamfort hat auch Eike Hertel, emeritierter Mathematik-Hochschullehrer an der FSU. „Von Stamfort stammt der Spruch in einer Diskussion mit Studenten, in der die sich über eine Überlastung beschwerten. Stamfort hatte gesagt: Ja, Sie müssen sich daran gewöhnen. Der Tag hat 24 Stunden. Und wenn Ihnen das nicht reicht, müssen Sie die Nacht dazunehmen“, erzählt Hertel lachend.

1964 wird Otto Stamfort Professor mit vollem Lehrauftrag für das Fach Methodik des Mathematikunterrichts, ein Jahr später Direktor des Instituts für Mathematik und 1966 Direktor der Abteilung Schulmathematik und Methodik des Mathematikunterrichts an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Zwar wird er 1967 emeritiert, doch übernahm er bis in die Mitte der 70er Jahre Lehrverpflichtungen an der Universität, hielt Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik. Stamfort soll sich nicht nur für eine hohe Qualität der Ausbildung von Mathe-Lehrern engagiert haben, sondern auch für die Etablierung der Mathematik-Olympiaden an den Schulen.

Am 14. April 1981 verstarb Otto Stamfort, wurde auf dem Nordfriedhof beigesetzt. Seine Witwe übersiedelte nach Leipzig, wo die Adoptivtochter der Stamforts lebt. Das Grab Stamforts ist inzwischen beräumt worden. In der Kahlaischen Straße 68, wo die Stamforts lebten, erinnert sich nur noch ein älterer Hausbewohner an die Familie. Und in jüngeren Veröffentlichungen über die Geschichte der Jenaer Universität taucht der Name Stamfort gar nicht mehr auf.