Erfurt. Die Thüringer SPD-Landtagsfraktion spricht sich wegen Thilo Sarrazin mit ihrem Mitglied Oskar Helmerich aus, bedauert, dass die Buchlesung in Erfurt stattfindet, und belässt aus sozialdemokratischem Grundverständnis alles, wie es war.

Oskar Helmerich bleibt justizpolitischer Sprecher und Mitglied der SPD-Landtagsfraktion - trotz heftiger Vorfeldkritik an der von ihm organisierten Buchlesung mit Thilo Sarrazin am 22. Mai in Erfurt. Rot-Rot-Grün behält damit die Einstimmenmehrheit im Thüringer Landtag.

„Es gibt keinerlei Sanktionierungen in Bezug auf seine Aufgabenbreite. Oskar Helmerich besetzt mehrere Ausschüsse, er ist in der Strafvollzugskommission. Alles wird genauso weiterlaufen wie vorher“, sagte SPD-Fraktionschef Matthias Hey heute Vormittag im Landtag. Zuvor hatte die SPD-Landtagsfraktion mehr als eine Stunde hinter verschlossenen Türen „die Situation bewertet“, wie Hey sagte. „Ernsthaft, sehr offen, sehr fair.“

Helmerich habe dabei „glaubhaft versichert, dass er sich nicht mit den Thesen Sarrazins gemein macht oder sich diesen anschließt“, erklärte Hey später schriftlich. „Ich bedaure sehr, dass er weiterhin an dieser Veranstaltung festhält. Es gibt aber unter vielen Genossinnen und Genossen auch die These, dass wir die Menschen nur erreichen, wenn wir mit ihnen sprechen. Wie weit das gehen muss, darüber scheiden sich die Geister - und niemand kennt die Antwort.“

„Es gab innerhalb der Fraktionssitzung keinen Antrag, Oskar Helmerich aus der Fraktion zu werfen“, sagte Hey unmittelbar nach der Sitzung. „Selbst wenn wir in dieser Koalition eine Mehrheit von fünf Stimmen hätten, hätte heute niemand den Antrag gestellt, Oskar Helmerich auszuschließen.“ Es sei „kein sozialdemokratisches Grundverständnis“, jemanden aus der Fraktion auszuschließen, „nur weil eine Person aus eigenem Antrieb eine Veranstaltung organisiert, mit der wir nicht einverstanden sind und die wir auch sehr kritisieren“.

Hey grenzte sich damit gegen Forderungen aus der SPD-Jugendorganisation Jusos ab. Noch am Montag hatten die Erfurter Jusos gefordert: „Helmerich muss aus der Fraktion rausgeschmissen werden!“

Oskar Helmerich, schwarzer Anzug, schwarze Weste, entsprechende Krawatte, weißes Hemd, die Aktentasche unter den gebeugten rechten Arm geklemmt, betrat kurz nach neun Uhr gesetzten Schrittes als Letzter den Sitzungssaal der SPD-Fraktion im Landtag, benannt nach Hermann Brill aus Gräfenroda, Hochschullehrer, Widerstandskämpfer, von Nazis ins KZ gesperrt, nach dem Kriege einer der Väter des Grundgesetzes.

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„Mir geht es um eine sachliche Auseinandersetzung mit den Thesen, die hier im Raum stehen“, erklärte Helmerich direkt nach der Fraktionssitzung. „Meine Intention ist es, ein Problem anzugehen und kritisch zu betrachten, das in der Bevölkerung da ist und das die Bevölkerung diskutiert haben will.“ Ihm gehe es um diejenigen Personen, die die SPD aus persönlichen Gründen nicht mehr als die Partei sehen, in der solche Probleme offen und kritisch angesprochen werden, sagte Helmerich. „Ich möchte, dass diese Personen sehen, dass die SPD das doch tut, beziehungsweise, dass ich das tue.“

Auf Nachfrage, welche Probleme er im Blick habe, sagte der SPD-Politiker: „Es geht auch um eine islamkritische Haltung, die innerhalb der Bevölkerung vorhanden ist. Das wollen wir diskutieren, und zwar kritisch.“

Erste innerparteiliche Unterstützung von prominenter Seite hatte Helmerich am Dienstag erhalten. Die SPD-Landräte von Nordhausen und Saalfeld-Rudolstadt, Matthias Jendricke und Marko Wolfram, warnten in Gesprächen mit unserer Zeitung vor Sanktionen gegen Helmerich. „Ihn auszuschließen, das geht nicht“, sagte Wolfram. „Ein öffentlicher Diskurs muss möglich sein. Sarrazin ist immerhin noch SPD-Mitglied.“

Die SPD-Bundesspitze hat im Dezember 2018 zum dritten Mal ein Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin eingeleitet, auch wegen Thesen, die er in seinem jüngsten Buch „Feindliche Übernahme“ vertritt, aus dem er in Erfurt vorlesen wird und das vielfach als islamfeindlich bewertet wird.

Eine kritische, reflektierte Debatte zu führen sei dennoch richtig und angemessen, sagte Landrat Wolfram. „Die Rolle der Frau im Islam, Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis, Religionsfreiheit, das sind alles Punkte, die man diskutieren kann.“ Das gehöre zu einer offenen Gesellschaft und zur Pluralität in der Partei. „Wir müssen verstehen, warum Menschen Protest wählen und sie sich sogar zum Teil staatsfeindlich verhalten.“ Menschen, die Integrationsprobleme benennen, seien „nicht pauschal gegen Ausländer“, sagte Marko Wolfram.

Die Buchlesung mit Sarrazin mit anschließender Debatte sei aus seiner Sicht auch „kompatibel“ mit der für den aktuellen Landtagswahlkampf ausgegebenen Ansage von SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee, sagte der Nordhäuser SPD-Landrat Matthias Jendricke. Tiefensee hatte kürzlich die Marschroute ausgegeben, AfD-Wähler nicht aufzugeben, sondern sie auf einen solidarischen Weg zurückzuführen. „Dafür muss man sich allerdings in die Themenfelder begeben, die die Menschen interessieren“, betonte Jendricke.

Ähnlich bewertet dies der Dresdner Politikprofessor Werner Patzelt, der bundesweit als einer der profundesten Analytiker der Entwicklung der AfD gilt. Sarrazin habe als einer der ersten Politiker die politischen und gesellschaftlichen Probleme beschrieben, um die herum später die AfD groß geworden sei. „Eine Diskussion über Themen, die die Gesellschaft bewegen, ist ein wichtiger Schritt, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden“, sagte Patzelt unserer Zeitung. „Die Thüringer SPD gehört dafür gelobt und gepriesen.“

Im Gegensatz zu Helmerich kümmere sich die SPD-Jugendorganisation Jusos, die Helmerichs Aussschluss verlangt, vorwiegend um Gender- und andere Randthemen, kritisierten die Landräte Jendricke und Wolfram. „Die SPD-Landespolitik darf sich nicht abkoppeln von Themen, die die Menschen draußen bewegen“, forderte Jendricke.

„Wir können uns die Welt zurechtmachen, wie es uns als Sozialdemokraten am leichtesten fällt, aber das interessiert die Menschen da draußen dann nicht“. Er erwarte, dass sich ein SPD-Linker zum Streitgespräch mit Sarrazin aufs Podium setze, sagte Landrat Wolfram. „Im Streit kommt man am besten der Wahrheit ein Stück näher.“

Noch ist kein SPD-Linker bekannt, der sich auf dem Podium im Parksaal des Erfurter Steigerwaldstadions mit Sarrazin streiten möchte. Wer wolle, dürfe selbstverständlich, versicherte SPD-Fraktionschef Matthias Hey gestern: „Es gibt bei uns keinen Maulkorb für so etwas.“ Er werde am 22. Mai allerdings nicht zugegen sein, sagte Hey. „Auch nicht vor dem Parksaal.“